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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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Ritual verlangte, vorher den Seher befragt hätte.

Rückzug

6
     
     
     
    Vor einigen Stunden, gleich nachdem er Elspeth am Flu s se alleingelassen hatte, war Peter Ashka an Bord zurückg e kehrt, nachdenklich und erregt, besorgt und doch höchst i n teressiert. Dienstlich lag nichts für ihn vor. Das wunderte ihn zwar, doch es bedeutete zumindest, daß er etwas Zeit zu u n gestörtem Nachde n ken hatte. Er suchte seine kleine Kabine auf, schaltete das Licht ab und trat an das große Fenster. Draußen war es trübe, und die schwere Wolkendecke mac h te alles noch düsterer. Schon wurden auf der Erdbastei Fa c keln angezündet, und ein Weilchen beobachtete er die g e schäftige Tätigkeit.
    Der Grund für seine Betroffenheit war Elspeth Mueller und das, was sie erzählt hatte. Es war vielleicht nur eine Laune des Schicksals, mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Mi l lion, die sie mit dem ching auseinandergebracht hatte; doch etwas B e stimmtes an ihrem Bericht ging ihm immer noch im Kopf herum. Er hatte ihr gesagt, daß er de r gleichen noch nie gehört hätte; doch jetzt, als er sich alle Einzelheiten des Gesprächs ins G e dächtnis rief, wurde ihm klar, daß er nicht die Wahrheit gesagt und das auch sofort gemerkt hatte.
    Aber wo? Und warum?
    Es war ein Schnipsel Information, der nicht ans Licht kommen und sich identifizieren wollte. Irgendwann in all den Jahren se i nes Lebens hatte er gelesen oder gehört, daß eine solche bizarre Veränderung in den ching -Mensch-Beziehungen eingetreten war, und es war ihm so beme r kenswert erschienen, daß die Tatsache noch irgendwo in se i nem Gehirn spukte. Aber sein Gedächtnis, zwar nicht so ze r brechlich wie sein Besitzer, doch vielleicht ein bißchen rostig, wollte sich einfach nicht so benehmen wie es sich gehörte . Es gab die Information, nach der er suchte, nicht frei.
    Welch ein heimtückischer Freund ist das Gedächtnis, si n nie r te er, daß es abwartet, bis man alt und hilflos ist, und dann erst seine neckenden Streiche spielt!
    Sein nachlassendes Gedächtnis machte ihm am meisten Angst; Alter und Gebrechlichkeit störten ihn nicht weiter, nicht einmal, wenn er mit jungen Männern und Frauen z u sammenkam, ihre Vitalität und Energie beobachtete und g e schickt die Gefühls- und Verantwortungslosigkeit ihrer j u gendlichen Konversation abbog, die ihn so oft verletzte, o b wohl sie es ihm ja nur leichter machen wollten. Nein, es war nicht die phys i sche Beeinträchtigung, unter der er litt, auch nicht die geistige, denn an Schnelligkeit des Denkens und allgemeiner Auffa s sungsfähigkeit übertraf er jeden an Bord – das mußte er auch, denn er war der Rationalist. Doch das Gedächtnis, ein Geiste s gebiet für sich (wenn es auch nicht den Anschein hatte), eine von den anderen wesentlichen Qualit ä ten des Geistes getrennte Einheit – hier fühlte er den Stich der Eifersucht, ein unb e herrschtes Irritiertsein, wenn er merkte, daß er sich an Geschehnisse und Orte um die L e bensmitte nicht eri n nern konnte, an die sich jüngere ganz klar erinnerten, obwohl sie zu der Zeit noch Kinder gewesen waren.
    Was er an Gedächtnis noch übrigbehielt (und das war e i ne ganze Menge), hielt er wert wie einen Schatz. Der natü r liche Abbau forderte seinen Zoll. Nur allzuoft kam es vor, daß er an einen zauberischen Augenblick seiner Jugend dachte, an ein Mädchen vielleicht oder an einen Freund, an Menschen, die er herzlich geliebt hatte, und der Name wollte nicht kommen. Das Gesicht war da, eine bestimmte Körpe r haltung, der Klang der Stimme, vielleicht der Geruch des Schnees oder eines heißen, stillen Sommers, trockenes Gras, durch das Blätterdach schimmerndes Sonnenlicht. Eine ei n zelne Szene, ein paar Sekunden eines Erlebnisses, das Stu n den gedauert hatte, ihm aber zu einer Essenz geronnen war. Wie ein Symbol, wie das simple Ornament, das soviel bede u ten kann, das nackte Zeichen, das eine Welt an Sin n gehalt umfaßt, jedoch viel leichter in unserer auf Chiffren eing e stellten Hirnrinde gespeichert werden kann.
    Wie lästig, daß seine Lebensjahre auf bloße Minuten z u samme n geschrumpft waren! Jede Minute mit Bedeutung vollgestopft, gewiß; doch im ganzen nur eine so unbede u tende Zei t spanne, daß er sich fragen mußte, was er mit all den anderen Stunden und Tagen gemacht hatte. Wie oft ha t te er sich g e wünscht, Zeit für dieses oder jenes zu haben, hier einen Plan e ten, dort eine Stadt aufzusuchen, und wie oft hatte die Zeit ihn

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