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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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besiegt; und doch … wieviel Zeit hatte er vergeudet beim Suchen nach dem inneren Frieden, der äuß e ren Befriedigung, nach der wahren Tiefe des ewigen Meeres der Zeit und der Wandlungen!
    Gedächtnis. Es war der Schlüssel zu seiner Vergange n heit, und es schloß ihm nur einen geringen Teil der Türen und Fe n ster auf; es schränkte seinen Rückblick ein und schien mit e i nem eigenen Willen zu operieren. Das nahm er tief und bitte r lich übel. Seine Eifersucht auf die Kraft und Zielsicherheit seines Jugendg e dächtnisses war lediglich ein Symptom dieses Ressentiments. Schon seit langem hatte sich Peter Ashka in sich selbst zurückg e zogen und sich auf soziale Isolation eingestellt. Er war sich darüber klargewo r den, daß er als Rationalist, der er nun einmal war, dazu ve r urteilt war, jedermanns und niemands Freund zu sein. Jeder schätzte seine Gesellschaft, keiner wollte Peter Ashka se i nen Freund nennen – jeder Rati o nalist war Freund seiner ganzen Rasse. Doch niemand, nicht einmal Gorstein, war als Mensch sein wahrer Freund. Niemand, außer seinem G e dächtnis und dem ching; und beide, so tröstlich sie auch sein mochten, hatten ihre Grenzen.
    Der Gedanke, sogar solche begrenzten Freunde zu verli e ren, die Möglichkeit, daß diese Beziehungen durch etwas auf dem Aeran noch stärker abgebaut werden könnten, e r füllte den schmächtigen Asiaten mit großer Furcht. Er hatte schon soviel verloren, er konnte es nicht ertragen, noch mehr zu verlieren.
    Er hatte gesagt, wenn er seine Freundschaft mit dem ching verlöre, könnte er nichts Besseres tun, als sich umz u bringen. Laut und erschreckend tönten seine eigenen Worte in seinem Innern. Er mußte die Augen schließen bei dem G e danken; doch sofort war das Vertrauen zum ching wieder auf dem Plan: sieben Monate. Sein Tod würde in sieben Monaten eintreten, und es würde ein friedlicher Tod sein. Selbstmord war kein friedlicher Tod. Dank sei dem tao, dachte er, Dank sei dem tao, daß ich es gewagt habe zu fr a gen.
    Sogleich besserte sich seine Stimmung. Er öffnete ein Wan d schränkchen und nahm einen seiner Schätze heraus, die Flachf o tografie einer Gruppe junger Männer. Das Bild war schon ganz blau vor Alter; die Ecken waren trotz des harten Materials, auf das die Fotografie aufgepreßt war, ze r knittert und eingerissen; aber die zehn Männer waren so l e bendig wie eh und je, sitzend oder stehend schauten sie aus der Höhe von fünf Dekaden auf Ashka hernieder. Dieser Blonde am Flügel, der so breit grinste, daß es nur ein fa l sches Grinsen sein konnte, und doch … nicht falsch … le b hafte Augen, modische Kleidung, die Haltung eines Mannes von bestem innerem Gleichgewicht. Er trug ein Abze i chen mit dem ching-Hexagramm; es war H e xagramm 61, ‚Innere Wahrheit’. Die übrigen neun trugen a n dere Abzeichen. Da war ‚Stillhalten’, ein ernster Mann; sein Name war jetzt ve r gessen, doch die Gespräche mit ihm waren noch … noch in großen Te i len gegenwärtig. (Ashka runzelte die Stirn.)
    Und da war sein sehr guter Freund … wer? Der Name war ihm auch entfallen, doch das Abzeichen wußte Ashka noch: Hex a gramm 21, ‚Das Durchbeißen’. Diese Abzeichen waren natürlich ein Ulk, Spitznamen für die Teilnehmer an der Rati o nalisten-Konferenz, zu der diese jungen Männer als die frisch graduierten männlichen Rationalisten des Jahres geladen waren – später wü r den sie sich in die Einsamkeit zurückziehen … für wie viele Ja h re? Waren es wirklich zehn gewesen? Sie k a men ihm vor wie zehn Wochen.
    Er drehte das Foto um und spürte die Atmosphäre dieser Konf e renz in seinem Blut, das lärmvolle Stimmengewirr, den Geruch der Tische aus Kiefernholz, das irritierende nächtliche Rascheln der grünen Vorhänge … und er las die Worte auf der Rückseite des Bildes: ‚Neue Rekruten, Jah r gang 3577. Die Carnuten. Es war seine eigene Handschrift. Carnuten? Da war doch etwas …
    Wieder runzelte er die Stirn.
    Er wußte, es war ein Scherz, und doch fiel ihm der Scherz nicht ein. Irgend etwas Historisches. Aber was war das für ein Name? Wieso wußte er, daß er dabei lächeln mußte, und doch bedeutete ihm dieser Name nichts?
    Dieses Gedächtnis!
    Die Tränen kamen ihm, als er wieder auf diese zehn Männer blickte, die ihn in ihrer vollen Jugendlichkeit ans a hen. Alle N a men waren weg, außer dem des Grinsenden und seiner ‚I n neren Wahrheit’. Wie ich mich verändert habe! Verdiene ich diesen Spitznamen noch? Dem

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