Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
Wahrheit?«
»Die Wahrheit.«
»Dann müßt Ihr mir vertrauen.« Seine Stimme war plötzlich leiser als die Geräusche des Feuers. »Wider Logik und Vernunft und Hoffnung. Vertraut mir.«
Morgon schloß die Augen. Er setzte sich wieder und neigte seinen schmerzenden Kopf nach hinten.
»Habt Ihr das in Lungold gelernt?«
»Es war eines der wenigen Dinge, die ich erlernen konnte. Ich geriet einmal versehentlich in einen geistigen Schrei des Zauberers Talies, als dieser vom Jähzorn übermannt wurde. Er lehrte ihn mich, gewissermaßen zur Entschädigung.«
»Wollt Ihr ihn mich lehren?«
»Jetzt?«
»Nein. Jetzt kann ich kaum einen Gedanken fassen, geschweige denn schreien. Wendet Ihr ihn häufig an?«
»Nein. Er kann gefährlich sein. Es war einfach so, daß ich das Eindringen eines fremden Geistes fühlte und reagierte. Es gibt einfachere Mittel, sich dagegen zu wehren; wäre mir klar gewesen, daß Ihr es wart, so hätte ich Euch nicht weh getan.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich kam, um Euch zu sagen, daß der Erhabene seinen Namen jedem Fels und jedem Baum am Isig-Paß aufgeprägt hat; das Land jenseits von Isig ist das seine, und er kann jeden Schritt wie einen Herzschlag spüren. Er wird keinen außer uns durchlassen. Danan meint, wir sollen aufbrechen, wenn das Eis auf der Öse schmilzt. Das müßte bald sein; das Wetter schlägt um.«
»Ich weiß. Ich fühle es. Danan hat mich heute nachmittag die Gestalt des Baumes gelehrt.« Er stand auf, um seinen Weinbecher vom Boden aufzuheben. Während er einschenkte, fügte er hinzu: »Ich vertraue Euch mit meinem Namen und meinem Leben. Aber mein Leben wurde aus seiner Bahn geworfen, wurde darauf gerichtet, Rätsel zu lösen. Ihr habt mir heute abend eines gestellt; ich werde es lösen.«
»Das«, erwiderte der Harfenspieler schlicht, »ist der Grund, weshalb ich es Euch gestellt habe.«
Ein paar Tage später, als Morgon allein den Isig hinaufstieg, um den Gestaltenwechsel zu üben, geriet er wieder in jenen Strom der Stille. In ihm entdeckte er einen unerwarteten Quell der Wärme, die aus tiefer Erde aufstieg, sich durch Adern und Äste ausbreitete, so daß er, als er wieder er selbst war, sie noch in seinen Fingerspitzen und in seinen Haarwurzeln spürte. Ein Wind fegte über den Isig hinweg; er blickte in ihn hinein und roch die Erde von Hed.
Als er zurückkam, stieß er auf Thod und Danan, die mit einem der Handwerker im Hof sprachen. Danan lächelte, als er sich ihnen näherte, und griff in eine Innentasche seines Umhangs.
»Morgon, heute kam ein Händler aus Kraal hier vorbei - sie flattern jetzt herein wie die Vögel zu Beginn des Frühjahrs. Er hat einen Brief für Euch gebracht.«
»Aus Hed?«
»Nein. Er sagte, er hätte ihn vier Monate mit sich herumgetragen. Aus Anuin.«
»Anuin«, wiederholte Morgon leise.
Er streifte seine Handschuhe ab und erbrach hastig das Siegel. Dann las er; die Männer beobachteten ihn. Der leichte Wind, der ihn in den Bergen gestreichelt hatte, zupfte an dem Papier in seiner Hand. Er blickte nicht gleich auf, als er zum Ende gekommen war; er versuchte, sich eines Gesichts zu erinnern, das Zeit und Entfernung zu einer schönen, verschwommenen Impression von Farben verwischt hatten. Schließlich jedoch hob er den Kopf.
»Sie will mich sehen.« Die Gesichter der anderen waren einen Moment lang nur unkenntliche Schatten. »Sie riet mir, ich sollte auf der Heimreise Schiffe meiden. Sie bat mich, nach
Hause zu kommen.«
In dieser Nacht hörte er in seinen Träumen das Donnern und Krachen der Öse und erwachte davon. Am Morgen hatten sich filigranartige Netze von Rissen und Sprüngen im Eis gebildet, und zwei Tage später trieb der dunkle, aufgeschwollene Fluß Eisbrocken von gewaltiger Größe durch Kyrth hindurch dem Meer zu. Die Händler in Harte machten sich daran, ihre Waren zu packen, um die Reise nach Kraal anzutreten und von dort in See zu stechen.
Danan schenkte Morgon ein Packpferd und eine sanftmütige Stute mit zottigen Hufen, die in Herun gezüchtet worden war. Thod gab er für sein Harfenspiel an den langen, stillen Abenden eine Kette aus Gold und Smaragden.
Eines Tages dann bei Morgendämmerung traten der Bergkönig, seine beiden Kinder und Bere in den Hof hinaus, um Mor- gon und Thod Lebewohl zu wünschen. Während an einem leuchtend blauen, wolkenlosen Himmel die Sonne über Isig aufging, ritten Morgon und Thod durch Kyrth der wenig bereisten Straße entgegen, die über den Isig-Paß zum Erlenstern-
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