Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
hindurch und ließ seinen Geist plötzlich mit Thods Namen aufflammen. Seine Konzentration zerriß; er sah wieder das Gesicht und das Feuer und die Schatten der Bäume.
»Morgon«, sagte Thod geduldig, »das klang, als befändet Ihr Euch auf der anderen Seite eines Bergs. Versucht es noch einmal.«
»Ich weiß nicht, was ich tue. «
»Sprecht meinen Namen so, wie Ihr es sonst auch tun würdet, aber tut es mit der Stimme Eures Geists. Und dann schreit ihn heraus.«
Er versuchte es nochmals. Doch er vergaß Hars Lehren und hörte diesmal selbst seinen Schrei fruchtlos und wirkungslos in seinem Geist. Wieder leerte er seinen Geist, versuchte es erneut und brachte eine Zusammenballung von Energie zustande, die anwuchs und platzte wie eine Blase in einem Suppentopf. Er zuckte zusammen.
»Verzeiht - habe ich Euch weh getan?«
Thod lächelte. »Das war ein wenig besser. Versucht es noch einmal.«
Er versuchte es wieder. Als schließlich der Mond aufging, hatte er seine Konzentrationsfähigkeit erschöpft.
Thod setzte sich auf, um Holz aufzulegen.
»Man versucht, ohne Geräusch die Illusion von Geräusch herzustellen. Das ist nicht einfach, aber wenn man mit einem anderen Gedanken austauschen kann, dann sollte man auch fähig sein, ihn anzuschreien.«
»Was mache ich falsch?«
»Vielleicht seid Ihr zu vorsichtig. Denkt an die Großen Schreier von An: Cyone von An; Herrn Col von Hel und die Hexe Madir, deren Schreikrieg über das Landrecht auf einen Eichenwald, in dem ihre Schweine weideten, legendär ist; denkt an Kaie, den ersten König von An, der ein riesiges Heer aus Aum durch seinen Verzweiflungsschrei über die Vielköp- figkeit dieses Heeres sprengte. Vergeßt, daß Ihr Morgon von Hed sei und ich ein Harfenspieler namens Thod. Tief in Eurem Inneren irgendwo liegt ein Schatz an Kraft und Energie, den Ihr noch nicht entdeckt habt. Zapft diese Quelle an, und Ihr werdet einen geistigen Schrei hervorbringen, der nicht so klingt, als käme er vom Grund eines Brunnenschachts.«
Morgon seufzte. Er bemühte sich, seinen Geist ganz leer zu machen, doch wie vom Wind getriebene Blätter zogen die lebhaften Bilder von Col und Madir vorbei, wie sie einander mit Schreien bewarfen, die wie Donnerschläge den blauen Himmel von An erzittern ließen; von Cyone, die im rotgoldenen Hochzeitsgewand einen gewaltigen Schrei von legendärer Wirkung ausgestoßen hatte; von Kaie, dessen Gesicht verdunkelt war von den Schatten verblichener Jahrhunderte, der angesichts seiner ersten Schlacht mit einem Schrei höchster Verzweiflung seiner Hoffnungslosigkeit Ausdruck gegeben hatte. Und seltsam bewegt von dieser Geschichte, schrie Morgon Kales Schrei heraus und spürte, wie er schnell und gerade wie ein Pfeil aus ihm hervorschnellte.
Thods Gesicht tauchte wieder vor ihm auf, still und starr über dem Feuer.
»War das besser?« fragte Morgon, von einem merkwürdigen Gefühl des Friedens beseelt.
Thod antwortete nicht gleich.
»Ja«, sagte er dann vorsichtig.
Morgon richtete sich auf.
»Habe ich Euch weh getan?«
»Ein wenig.«
»Ihr hättet - warum habt Ihr mich nicht abgewehrt?«
»Ich war zu überrascht.« Er holte tief Atem. »Ja. Das war viel besser.«
Am folgenden Tag entfernte sich der Fluß von ihnen, als ihr Pfad sie in Windungen die Gebirgshänge hinaufführte, während die blauen, weißschäumenden Wasser sich in der Tiefe durch ein Tal wälzten. Eine Weile verloren sie den Fluß aus den Augen, als sie durch die Wälder ritten. Morgon mußte an Danan denken, als er die endlosen Baumreihen sah, und ihm war, als blickte ihn das Gesicht des Bergkönigs aus den mächtigen, alten Stämmen an. Gegen Mitte des Nachmittags gelangten sie auf einen Grat und sahen den blitzenden, rastlosen Fluß wieder und die Berge, deren weiße Winterumhänge schon große, dunkle Löcher und Risse hatten.
Das Packpferd schweifte vom Weg ab und löste einen Felsbrocken unter ihnen, der zum Fluß hinuntersprang. Morgon riß das Pferd zurück. Die Sonne lag hell auf dem Berggipfel über ihnen; Lichtreflexe funkelten auf einer Kette von Eiszapfen am Felsüberhang. Morgon blickte hinauf zu den Hängen über ihren
Köpfen, und das grelle Weiß des Berges brannte in seinen Augen.
Er wandte sich ab und sagte zu Thod: »Wenn ich jetzt in Hed mit dem Großen Schrei die Nußernte von den Büschen schütteln wollte, wie müßte ich das anstellen?«
Thod, aus seinen eigenen Gedanken gerissen, erwiderte zerstreut: »Vorausgesetzt, daß die Nußbäume an
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