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Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel

Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel

Titel: Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia A. McKillip
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Zorn, der in ihm aufstieg, brachte etwas Klarheit in seinen Kopf. Noch immer kniend, warf er sich gegen den Harfner, riß ihn, mit der unverletzten Schulter zustoßend, aus dem Gleichgewicht, so daß er in die schweren Kissen stürzte. Dann schwang er, seine Finger in den Riemen verkrallt, die Harfe in seiner Hand hoch und schleuderte sie auf den Harfner. Mit einem wirren Schwall von Tönen schlug sie auf, und Morgon hörte ein schwaches, unfreiwilliges Stöhnen.
    Er stürzte sich auf die schattenhafte Gestalt. Der Harfner unter ihm wehrte sich; im schwachen Licht, das vom Korridor hereindrang, sah Morgon Blut auf dessen Gesicht. Ein Messer, das aus Luft gemacht schien, sauste auf Morgon zu; wild grapschte er nach dem Handgelenk des Gegners, dessen andere Hand sich wie die Klaue eines Raubvogels um Morgons gebrochene Schulter schloß.
    Er stöhnte auf, und die Umrisse des Harfners verdunkelten sich vor seinen Augen. Und dann spürte er, wie die Gestalt des Mannes, den er festhielt, sich wandelte, wie die Form unter seiner Hand zerfloß. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er die Gestalt mit seiner gesunden Hand umklammert, als hielte er seinen Namen fest.
    Er konnte die flüchtigen, wie rasend sich wehrenden Gestalten, die er hielt, nicht zählen. Er roch Holz, die scharfe Ausdünstung eines Tierfells, spürte Flügelschlag unter seiner Hand, schleimigen Sumpfschlamm zwischen seinen Fingern. Er hielt den schweren, zottigen Huf eines Pferdes, dessen Versuche, auszuschlagen, ihn auf die Knie rissen; hielt einen glitschigen
    Lachs, der beinahe seinen Fingern entglitt; eine Wildkatze, die wütend herumwirbelte, um nach ihm zu schlagen. Er hielt Tiere in seiner Hand, die so alt waren, daß sie keinen Namen hatten; er erkannte sie mit Verwunderung nach den Beschreibungen aus uralten Büchern. Er hielt einen riesigen Stein aus einer der Städte der Erdherren, der beinahe seine Hand zerschmetterte; er hielt einen Schmetterling, der so schön war, daß er ihn beinahe hätte fliegen lassen, um seine Flügel nicht zu verletzen. Er hielt eine Harfensaite, deren Klang in seinen Ohren schrillte, bis sie selbst der Klang wurde. Und der Klang, den er hielt, verwandelte sich in ein Schwert.
    Er hielt seine Klinge, silbrig weiß, halb so lang wie sein Körper; seltsame verschnörkelte Muster, fein ziseliert, schmückten die Klinge, fingen das Licht der Feuersglut ein. Das Heft war aus Kupfer und Gold. In Gold gefaßt waren feuersprühend drei Sterne.
    Der Griff seiner Hand lockerte sich. Der pfeifende Atem, der aus seiner Kehle hervordrang, brach ab. Kein Laut war mehr im Zimmer. Mit einem plötzlichen, wütenden Schrei schleuderte er das Schwert von sich weg, hinüber zur Tür, wo es klirrend niederfiel und sich auf den Steinen des Bodens drehte und Lyra erschreckte.
    Sie hob es auf und fuhr herum, doch das Schwert bekam eigenes Leben in ihrer Hand, und sie ließ es wieder fallen, wich vor ihm zurück in den Gang. Sie stieß einen Schrei aus; Stimmengewirr flutete durch den Korridor. Das Schwert verschwand; an seiner Stelle stand der Meister der Verwandlung.
    Er bewegte sich blitzschnell, wandte sich Morgon zu; Lyras Speer, einen Herzschlag zu spät abgeworfen, zischte an ihm vorüber und durchbohrte eines der Kissen neben Morgon. Mor- gon, der noch immer auf den Knien lag, sah, wie die Gestalt durch das Gespinst der Schatten brach. Ihr Haar verwob sich mit der Dunkelheit, das haarige Gesicht hatte die Farbe von Muscheln, die schwerlidrigen Augen leuchteten in einem blaugrünen Licht. Der Körper war fließend, schillerte ständig wechselnd in den Farben von Schaum und Meer; er bewegte sich ohne Geräusch, und seine seltsamen Gewänder erglänzten in Lichtreflexen von der Farbe nassen Tangs und dem Glitzern nasser Schuppen. Als er sich näherte, unerbittlich wie die Flut, spürte Morgon die Ausstrahlung einer ungeheuren, namenlosen Macht, rastlos und unergründlich wie das Meer, gleichgültig wie das Licht hinter den Augen, die auf sein Gesicht gerichtet waren.
    Lyras Schrei riß ihn aus seiner Benommenheit wie aus einem Traum.
    »Der Speer! Morgon! Der Speer bei Eurer Hand! Werft ihn!«
    Er griff danach. Etwas regte sich in den meerfarbenen Augen; es war wie das ferne, schwache Flackern eines Lächelns. Mor- gon sprang auf, wich langsam zurück, den Speer mit beiden Händen vor sich haltend. Er hörte Lyras verzweifelten Schrei. »Morgon!« Seine Hände begannen zu zittern; das Lächeln in den befremdlichen Augen vertiefte sich.

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