Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
Leben sein.«
Seine Stimme verklang. Er wälzte sich auf die Seite, und seine Augen fielen zu. Ein wenig später vernahm er das sanfte, träumerische Spiel von Thods Harfe, und er ließ sich von den Klängen in Schlaf wiegen.
Er erwachte beim Gesang eines anderen Harfners. Die Klänge der Harfe durchwoben ihn wie ein Netz. Der langsame, dunkle Rhythmus maß das träge, bebende Pulsen seines Bluts, und die leidenschaftlichen, hohen Töne rissen am Gewebe seiner Gedanken wie die Krallen kleiner, verängstigter Vögel. Er wollte sich erheben, doch ein Gewicht lag auf seinen Händen und auf seiner Brust. Er öffnete den Mund, um nach Thod zu rufen; der Laut, der ihm über die Lippen kam, war wie das Krächzen der schwarzen Krähe.
Er öffnete die Augen und merkte, daß er sie nur im Traum geöffnet hatte. Nochmals öffnete er sie und sah nichts als die Dunkelheit hinter seinen Augenlidern. Entsetzen stieg in seiner Kehle auf. Als tauchte er durch tiefe, schwere Wasser von Finsternis und Schlaf, als drängte er keuchend zu Wahrheit und Bewußtsein. Und’ endlich hörte er die Stimme des Harfners und sah durch seine Wimpern hindurch die müden, feurigen Augen verlöschender Glut.
Die Stimme war rauh und volltönend, und Wort um Wort fesselte sie ihn wie in einem Alptraum.
Verdorren wird deine Stimme Wie die Wurzeln deines Bodens.
Träge wird der Strom deines Bluts Wie die schleppenden Wasser Der Flüsse von Hed.
Wirr wird dein Geist
Wie das Geschlinge des Hopfens,
Der welk und knisternd unter deinen Füßen.
Verdorren wird dein Leben Wie das späte Korn verdorrt.
Morgon öffnete die Augen. Die Dunkelheit und die rote, zischende Glut drehten sich in Wirbeln um ihn herum, bis die Dunkelheit wie eine Flutwelle über sein Gesicht schlug und das Feuer winzig schien, weit entfernt. Im schwarzen Schacht der Nacht sah er Hed wie ein geborstenes Schiff auf dem Meer treiben; er hörte das dürre Knistern der Hopfenblätter, spürte in seinen Adern, wie die Flüsse träger zu fließen begannen, wie ihr Wasser schwer wurde von Schlamm und schließlich versiegte, wie ihre ausgetrockneten Betten unter dem Lied des Harfners rissig wurden. Er stieß einen schrillen Laut der Ungläubigkeit aus und sah endlich den Spieler jenseits des Feuers. Seine Harfe war aus seltsam weißem Bein und glänzenden Muschelschalen geformt. Sein Gesicht war im Schatten verborgen. Beim Klang von Morgons Stimme schien sich das Gesicht ein wenig zu heben. Morgon sah flüchtig ein Aufblitzen feurig glühenden Goldes.
Trocken, staubtrocken, die Erde,
Deine Erde, Herr des Landes,
Herr der Sterbenden. Dürr die Felder Deines Körpers, seufzend der Hauch Deines letzten Worts,
Das hinstreift über die Öde,
Die große Öde von Hed.
In einer Flutwelle schien das Meer von dem dunklen, zerstörten Land zurückzuweichen, die letzten Wasser der Flüsse mit sich zu nehmen, die Quellen von Hed leerzusaugen; kahl und öde blieb das Gestade zurück, eine unfruchtbare Wildnis von Muscheln und Sand. Morgon, der spürte, wie die trockene, kalte Erde, das Lebensblut von Hed mit dem Meer davongespült wurde, schöpfte voller Verzweiflung Atem. Mit letzter Kraft schrie er einen Protest, der kein Wort war, sondern ein heiserer Vogelschrei gegen die Schrecklichkeit der Harfenweise. Das Krächzen brachte ihn zu sich selbst zurück, als hätte sein Körper, der in Dunkelheit zerflossen war, sich wieder gesammelt. Er sprang auf, zitternd, so schwach, daß er über den Saum seines langen Gewandes stolperte und dann stürzte. Ehe er wieder aufstand, raffte er heiße Asche und dürre Holzspäne zusammen und schleuderte sie nach dem Harfner.
Dieser riß den Kopf zur Seite und stand auf. Seine Augen waren bleich im düsteren Feuerschein, und goldene Lichter schillerten in ihnen. Er lachte, und der Ballen seiner Hand traf mit hartem Schlag Morgons Kinn. Morgons Kopf wurde nach hinten gerissen; zu Füßen des Harfners fiel er benommen, röchelnd auf die Knie. Seine Finger streiften über Harfensaiten und sandten einen dünnen Mißklang von Tönen in die Dunkelheit. Des Spielers eigene Harfe, die zischend abwärts sauste, verfehlte Morgons Kopf, als dieser eine Bewegung machte, und zersprang an seinem Schlüsselbein in Stücke.
Er schrie auf, als der Knochen krachend brach. Durch den Schweiß und die Nebelschleier vor seinen Augen sah er Lyra reglos unter der Tür stehen. Sie hatten ihm den Rücken zugewandt, als wäre er hinter ihr so lautlos wie ein Traum. Der Schmerz, der
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