Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
Umschlingung. Dann riß es sich mit einer plötzlichen Bewegung los und warf den Kopf zurück; und während das Rund der gebogenen goldenen Hörner wie Sonnenglanz vor dem weißen Himmel funkelte, zerfloß die Vesta, und ein Mensch stand plötzlich an ihrer Stelle.
Es war ein hochgewachsener, sehniger Mann mit weißem Haar, der halbnackt im Schnee stand. Die Augen in dem mageren, durchfurchten Gesicht waren eisblau; auf den Händen, die sich Morgon entgegenstreckten, leuchteten zwei weiße Narben, die die Form von Vestahörnern hatten. »Har«, flüsterte Mor- gon.
Ein kleines Lächeln blitzte wie eine Flamme in den hellen Augen auf. Der Wolfskönig schob einen kraftvollen Arm unter Morgons Schulter und zog ihn auf die Beine. »Willkommen!«
Geduldig half er Morgon die Stufen hinauf, stieß die breite
Flügeltür zu einem Saal auf, der etwa so groß war wie die Scheune in Akren, auf der einen Seite mit einem riesigen Kamin. Hars laute Stimme zerschnitt die Stille; zwei Krähen, die auf dem Sims eines hohen Fensters hockten, krächzten erschreckt.
»Hält dieses Haus Winterschlaf? Ich wünsche Essen, Wein und trockne Kleider, und ich bin nicht gewillt, darauf zu warten, bis meine Knochen brüchig werden vom Alter und mir die Zähne aus dem Mund fallen. Aia!«
Verschlafene Knechte und Mägde hasteten in den Saal, begleitet von einer Horde von Hunden, die begierig um sie heraussprangen. Ein halber Baumstamm wurde auf das matt glühende Feuer geworfen; Funken stoben zum Dach hinauf. Man legte Har einen weiten Umhang aus weißer Wolle um die Schultern; Morgon wurde noch auf der Schwelle flink aus seinen Kleidern geschält. Man zog ihm einen langen, wollenen Kittel über den Kopf und legte ihm dann einen Mantel aus vielfarbigen Pelzen um die Schultern. Platten mit Speisen wurden hereingebracht und am Feuer niedergestellt. Morgon roch den Duft warmen Brotes und heißen, gewürzten Fleisches. Immer noch auf Hars Arm gestützt, sank er schlaff zusammen. Kühler, herber Wein wurde ihm eingeflößt. Er trank davon und verschluckte sich, spürte das schmerzhafte Prickeln seines Bluts, das sich langsam wieder zu regen begann.
Als sie sich endlich setzten und zu essen begannen, trat eine Frau in den Saal. Sie hatte ein klares, schönes Gesicht, Haare von der Farbe alten Elfenbeins, das ihr in einem Zopf bis zu den Knien reichte. Sie trat ans Feuer, und ihre Augen wander- ten von Har zu Morgon.
Sie drückte Har einen sanften Kuß auf die Wange und sagte gelassen: »Willkommen daheim. Wen hast du diesmal mitgebracht?«
»Den Fürsten von Hed.«
Morgon drehte ruckartig den Kopf. Sein Blick begegnete dem von Har; in seinen Augen stand eine unausgesprochene Frage. Das kleine Lächeln in den Augen des Wolfskönigs vertiefte
sich.
»Ich habe eine Gabe, den Menschen ihre richtigen Namen zu geben«, bemerkte er. »Ich will sie Euch lehren. Das ist meine Frau Aia. - Ich habe ihn draußen an der Öse gefunden, wo er zu Fuß durch den Schneesturm irrte«, fügte er zu ihr gewandt hinzu. »Vieles habe ich schon erlebt, wenn ich in Gestalt der Vesta durch die Lande streifte; man hat auf mich geschossen; ein Fallensteller hat mir einst in den Hügeln hinter dem Grimberg ein Netz übergeworfen, ehe er erkannte, wer ich war; nie zuvor aber bin ich von einem Mann gefüttert worden, der im ganzen Reich gesucht wird.«
Sein Blick richtete sich wieder auf Morgon, der aufgehört hatte zu essen. Freundlich und sanft klang seine Stimme über dem Knistern des Feuers, als er sagte: »ihr und ich, wir sind Rätselmeister; ich will keine Kämpfe mit Euch austragen. Ich weiß einiges über Euch, aber nicht genug. Ich weiß nicht, was Euch zum Erlenstern-Berg treibt, oder vor wem Ihr Euch verbergt. Ich möchte es wissen. Ich will Euch an Wissen oder Können alles geben, was Ihr von mir verlangt, wenn Ihr mir dafür nur eines gebt. Wäret Ihr nicht in mein Land gekommen, so wäre ich früher oder später in dieser oder jener Gestalt nach Hed gewandert: als alte Krähe, als alter Händler, der Euch Knöpfe gegen Wissen verkauft. Ich wäre gekommen.«
Morgon stellte seinen Teller nieder. Langsam kehrte die Kraft in seinen Körper zurück, und bei Hars Worten rührte sich auch in seinem Geist eine Kraft, ein Zielbewußtsein.
»Wenn Ihr mich am Fluß nicht gefunden hättet«, erwiderte er stockend, »wäre ich umgekommen. Ich will Euch alle Hilfe geben, die Ihr braucht.«
»Es ist gefährlich, mir so etwas unbesehen in meinem Hause zu versprechen«,
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