Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
heimwärts zu ziehen. Davon hatte noch keiner gehört, nicht einmal die Morgol, und nachdem Rendel geendet hatte, gab es einen allgemeinen Ausbruch staunender Verwunderung. Mit ihren gütigen Stimmen stellten die Großmeister ihr Fragen, die sie nicht beantworten konnte; und sie stellten einander Fragen, auf die ebensowenig jemand eine Antwort wüßte.
Dann nahm die Morgol wieder das Wort. Was sie sagte, hörte Rendel nicht, sie spürte nur die Stille, die wie etwas Greifbares von Meister zu Meister huschte, von Gruppe zu Gruppe, bis außer dem mühsamen Atmen eines sehr alten Großmeisters kein Laut mehr im Zimmer war. Die Miene der Morgol hatte sich nicht verändert; nur ihre Augen waren wachsam geworden.
»Großmeister Ohm«, sagte ein gebrechlicher, sanftmütiger Großmeister mit Namen Tel, »weilte bis zum vergangenen Frühling ständig unter uns. Da erst reiste er nach Lungold, um sich dort ein Jahr lang in stiller Zurückgezogenheit seinen Studien zu widmen. Er hätte jeden Ort wählen können, der ihm beliebte; er entschied sich für die alte Stadt der Zauberer. Seine Briefe an uns wurden uns von den Händlern von Lungold überbracht.« Er schwieg, die klugen Augen, in denen keine Leidenschaft glühte, auf ihr Gesicht gerichtet. »El, Ihr seid für Eure Klugheit und Eure Integrität so bekannt und geachtet wie diese Schule; wenn Ihr einen Grund seht, an unserer Schule Kritik zu üben, dann zögert nicht, es uns zu sagen.«
»Gerade die Integrität der Schule ziehe ich in Zweifel, Meister Tel«, erwiderte die Morgol leise, »und zwar in der Person von Großmeister Ohm. Ich bezweifle, daß Ihr ihn hier je wiedersehen werdet. Und zugleich stelle ich unser aller Klugheit in Frage, die meine eingeschlossen. Kurz bevor ich aus Herun abreiste, suchte mich der König von Osterland auf. Er kam ohne Aufsehen und ohne Prunk. Er wollte wissen, ob ich Nachricht von Morgon von Hed hätte. Er sagte, er wäre in Isig gewesen, nicht aber am Erlenstern-Berg. Die Stürme und Nebel über dem Paß wären allzu wild und gefährlich gewesen, selbst für eine Vesta. Während er bei mir war, berichtete er mir etwas, das den Verdacht, den ich seit meinem letzten Besuch hier hege, noch verstärkte. Er sagte, Morgon hätte ihm berichtet, das letzte Wort, das der Zauberer Suth sprach, als er sterbend in Morgons Armen lag, wäre Ohms Name gewesen. Ohm. Ghisteslohm. Der Gründer von Lungold. Ihn klagte Suth mit seinem letzten Atemzug an.« Sie schwieg, während ihre Augen von einem unbewegten Gesicht zum anderen wanderten. »Ich fragte Har, ob er sich mit der Frage an die Schule gewandt hätte, und er lachte und erwiderte, die Herren über alles Wissen wären unfähig, den Sternenträger oder den Gründer von Lungold zu erkennen.« Wieder schwieg sie, doch aus der Reihe der Männer, die ihr zuhörten, kam weder Protest noch Entschuldigung. Sie neigte leicht den Kopf.
»Großmeister Ohm hält sich seit dem Frühjahr in Lungold auf. Seit dieser Zeit wurde vom Harfner des Erhabenen nichts mehr gehört, und nach allem, was man sich berichtet, hüllt sich auch der Erhabene selbst seit dieser Zeit in Schweigen. Der Tod des Fürsten von Hed erlöste die Zauberer aus der Macht, die sie gefangenhielt. Ich bin der Meinung, daß der Gründer von Lungold die Zauberer befreite, weil er, indem er den Sternenträger tötete, ihre Macht und ihr Eingreifen nicht mehr zu fürchten brauchte. Ich bin weiter der Meinung, daß diese Schule, wenn sie sich ihre Existenzberechtigung erhalten will, mit höchster Sorgfalt und höchster Zielstrebigkeit diesem Gewirr von Rätseln, das dringend nach Auflösung verlangt, auf den Grund gehen sollte.«
Wie ein Seufzer ging es durch den Raum; es war der Meereswind, der wie ein Vogel auf der Suche nach dem Flucht-weg die Wände entlangstrich.
Abrupt drehte Lyra sich um; die Tür hatte sich hinter ihr geschlossen, noch ehe einer bemerkt hatte, daß sie sich rührte. Die Augen der Morgol schweiften flüchtig zur Tür, dann zurück zu den Meistern, die wieder zu sprechen begonnen hatten. Ihre murmelnden Stimmen waren gedämpft. Sie scharten sich um die Morgol.
Rood stand, die Hände flach auf einem der Lesepulte, über ein Buch gebeugt, doch sein Gesicht war blutleer, und seine Schultern waren starr. Rendel wußte, daß er das Buch vor sich gar nicht sah. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Dann drehte sie sich um, drängte sich zwischen den Meistern hindurch zur Tür und ging hinaus.
Im Flur kam sie an den Schülern
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