Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
spürte Rendel das Selbstbewußtsein darin, die absolute Sicherheit, an einen bestimmten Platz zu gehören und an keinen anderen.
»Wie könnt Ihr das sagen?« fragte Lyra. »Wie könnt Ihr nicht nach Hause zurückkehren? Dort gehört Ihr doch hin, das ist der einzige Ort, wohin Ihr gehört.«
»Für Euch vielleicht. Ihr könntet niemals anderswo hingehören als nach Herun.«
»Aber Ihr seid aus An! Ihr seid beinahe eine Legende von An, selbst in Herun. Wohin sonst könntet Ihr gehen? Euer ist der Zauber von An, Ihr seid aus dem Geblüt seiner Könige; wo. was hat diese Frau zu Euch gesagt, das so schrecklich ist, Euch Eurem eigenen Heim fernzuhalten?«
Rendel schwieg. Nur ihre Hände regten sich, umklammerten fester die Reling. Lyra wartete. Doch Rendel sagte noch immer nichts.
»Seit wir Euch im Wald gefunden haben«, fuhr Lyra schließlich fort, »habt Ihr kaum mit einem Menschen gesprocben. Und seitdem haltet Ihr etwas in Eurer linken Hand. Etwas - das Euch weh tut. Ich würde es wahrscheinlich nicht verstehen. Ich habe kein Gefühl für solche Dinge, die mit dem Verstand nicht zu begreifen sind, wie Zauberei und Rätselei. Doch wenn es etwas gibt, das ich für Euch bekämpfen kann, so werde ich es bekämpfen. Wenn es etwas gibt, das ich für Euch tun kann, so werde ich es tun. Das schwöre ich bei meiner Ehre -«
Abrupt wandte Rendel den Kopf bei diesem „Wort, und Lyra brach ab.
»Nie in meinem Leben«, flüsterte Rendel, »habe ich über Ehre nachgedacht. Vielleicht, weil nie jemand sie an mir oder an einem Mitglied meiner Familie in Frage gestellt hat. Aber jetzt frage ich mich, ob es das ist, was mich bedrückt. In An wäre jetzt nur noch wenig Ehre für mich übrig.«
»Warum?« hauchte Lyra ungläubig.
Rendels Hand glitt von der Reling und öffnete sich, aufwärts gewandt, zum Licht.
Lyra starrte auf den kleinen, kantigen Abdruck in der Handfläche.
»Was ist das?«
»Das ist das Mal jenes Steins. Des Steins, mit dem ich die Kriegsschiffe geblendet habe. Es kam zum Vorschein, als ich das Feuer in der Hand hielt -«
»Ihr - sie hat Euch gezwungen, Eure Hand ins Feuer zu legen?«
»Nein. Keiner hat mich gezwungen. Ich streckte einfach den Arm aus und sammelte das Feuer in meiner Hand. Ich wußte, daß ich das tun konnte, und da habe ich es getan.«
»Eine solche Gabe habt Ihr?« Ihre Stimme war beinahe ehrfürchtig vor Staunen. »Das ist die Gabe eines Zauberers. Aber warum seid Ihr so beklommen? Hat es mit dem zu tun, was das Mal auf Eurer Hand bedeutet?«
»Nein. Ich weiß kaum, was es bedeutet. Aber ich weiß, von wem ich die Gabe habe, und sie stammt nicht von irgendeiner Zauberin von An oder einem Zauberer aus Lungold. Sie wurde mir von Ylon gegeben, der einst König von An war, ein Sohn einer Königin von An und ein Gestältwandler. Sein Blut fließt in den Adern der königlichen Familie. Ich habe seine Gabe. Sein Vater war der Harfner, der Morgon in Eurem Haus zu töten versuchte.«
Wortlos starrte Lyra sie an. Das Licht im Kartenhaus erlosch plötzlich, und ihre Gesichter blieben in Dunkelheit; jemand zündete die Lampen am Bug an. Rendel wandte sich wieder dem Wasser zu. Sie hörte, daß Lyra etwas sagen wollte und abbrach. Einige Minuten später, noch immer neben Rendel an die Reling gelehnt, setzte sie nochmals an und unterbrach sich wieder. Rendel wartete darauf, daß sie gehen würde, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Eine halbe Stunde später, als sie beide in der Nachtluft zu frösteln begannen, machte Lyra nochmals einen Versuch und fand endlich die Worte.
»Das ist mir alles gleich«, sagte sie leise und heftig. »Ihr seid, wer Ihr seid, und ich kenne Euch. Was ich gesagt habe, gilt immer noch; ich habe es geschworen. Es ist das gleiche Versprechen, das ich Morgon gegeben hätte, wäre er nicht so starrsinnig gewesen. Eure Ehre ist es, nicht Euer Mangel an Ehre, die Euch davon abhält, nach An zurückzukehren. Und wenn es mich nicht kümmert, weshalb sollte es Morgon kümmern? Denkt daran, aus welchem Quell er einen großen Teil seiner Gaben schöpft. So, und jetzt laßt uns hinuntergehen, ehe wir erfrieren.«
Noch ehe sich die Morgennebel über dem Meer gehoben hatten, erreichten sie Kraal. Die Boote legten an; die Passagiere gingen mit Erleichterung von Bord, sahen zu, wie die Ladung gelöscht wurde, während Bri sich auf den Weg zu Mathoms Schiff und seiner Besatzung machte, um ihre Sachen holen zu lassen.
»Hoffentlich«, murmelte Kia müde vor sich hin,
Weitere Kostenlose Bücher