Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
das Recht dazu.«
»Morgon -«
Seine Hände umklammerten schmerzhaft ihre Arme. Nicht mehr sie sah er, sondern ein schwarzes, geheimes Grauen in seiner Erinnerung. Sie sah die Schweißperlen an seinem Haaransatz, - sah das Zucken der Muskeln in seinem starren Gesicht.
»Solange Ghisteslohm in meinem Geist war«, flüsterte er, »existierte nichts anderes. Aber manchmal, wenn er - wenn er mich allein ließ und ich mich noch lebend in den finsteren, öden Grotten des Erlenstern-Bergs wiederfand, konnte ich Thods Spiel hören. Manchmal spielte er Lieder aus Hed. Er gab
mir etwas, wofür es wert war, zu leben.«
Sie schloß die Augen. Das Gesicht des Harfners stieg vor ihr auf, verwischte sich; sie empfand den erbarmungslosen, blinden Zorn Morgons und den Verrat des Harfners wie ein unlösbares Rätsel, das kein Lehrsatz rechtfertigen konnte, und das kein Rätselmeister in der Stille der Bibliothek entwirren konnte. Seine Qual machte ihr Schmerzen; seine Einsamkeit schien ein riesiger, bodenloser Schacht zu sein, in dem Worte versanken und sich verloren wie Kieselsteine. Sie begriff, wie es hatte geschehen können, daß auf sein Wort sich Hof um Hof geschlossen hatte, Königreich um Königreich, während er sich seinen schwierigen, geheimen Weg durch das Reich gebahnt hatte. Sie flüsterte Hars Worte: »Ich würde mir die Narben von meinen Händen reißen, um sie dir zu geben.«
Endlich lockerte sich die Umklammerung seiner Hände. Lange blickte er stumm auf sie hinunter, ehe er sprach.
»Aber dieses eine Recht willst du mir nicht gestatten.«
Sie schüttelte den Kopf. Es kostete sie Anstrengung, zu sprechen.
»Du wirst ihn töten, doch selbst tot wird er an deinem Herzen nagen, bis du ihn verstehst.«
Seine Hände sanken herunter. Er wandte sich von ihr ab und ging wieder zum Fenster. Er berührte das von Sprüngen durchzogene Glas, drehte sich dann abrupt wieder um. Sie konnte sein Gesicht in den Schatten kaum erkennen; seine Stimme klang rauh.
»Ich muß fort. Ich weiß nicht, wann ich dich wiedersehen werde.«
»Wohin gehst du?«
»Nach Anuin. Um mit Duac zu sprechen. Ich werde schon fort sein, lange ehe du es erreichst. So ist es am besten für uns beide. Wenn Ghistleslohm je gewahr würde, wie er dich gebrauchen könnte, wäre ich machtlos; ich würde ihm mein Herz mit beiden Händen überreichen, wenn er es forderte.«
»Und dann wohin?«
»Thod finden. Und dann - ich -« Unvermittelt brach er ab.
Wieder umspülte ihn die Stille, während er lauschend dastand; seine Gestalt am Rande des Kerzenlichts schien sich zu verwischen. Sie lauschte und hörte nichts als den Nachtwind in den flackernden Flammen, das wortlose Murmeln des Meeres. Sie trat einen Schritt auf ihn zu.
»Ist es Ghistleslohm?«
Ihre Stimme war gedämpft, in seiner Stillheit gefangen. Er antwortete nicht, und sie konnte nicht erkennen, ob er sie gehört hatte. Angst stieg plötzlich in ihr auf.
»Morgon«, flüsterte sie.
Erst da wandte er ihr sein Gesicht zu. Sie hörte sein plötzliches, unterdrücktes Aufseufzen. Doch er regte sich nicht, bis sie zu ihm ging. Da zog er sie langsam und müde in sein Schweigen hinein, und sein Gesicht senkte sich auf ihr Haar.
»Ich muß fort. Ich komme zu dir nach Anuin. Zum Gericht.«
»Nein -«
Er schüttelte sachte den Kopf. Ihre Hände glitten von ihm ab. Er sagte etwas, das sie nicht hören konnte, da seine Stimme so leise war wie das Murmeln des Windes. Sie sah einen von Flammen durchzogenen Schatten und dann eine Erinnerung.
Sie kleidete sich aus und lag noch lange wach, ehe sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Stunden später erwachte sie und spähte aufgewühlt in die Finsternis. Gedanken bedrängten sie, ein brodelndes Wirrwarr von Namen, von Sehnsüchten, Erinnerungen und Zorn, ein sprudelnder Geysir von Ereignissen, Impulsen, unartikulierten Stimmen. Sie setzte sich auf und fragte sich, in welches Gestaltwandlers Geist sie hineingezogen worden war, doch in ihr war eine merkwürdige Hellsicht, die nichts mit den Gestaltwandlern zu tun hatte, die ihre Augen unbeirrbar nach An zog, als könnte sie es durch die nackten Steinmauern und die Nacht hindurch sehen. Sie spürte, wie ihr Herz heftig zu hämmern begann. Ihre Wurzeln zerrten an ihr; das ihr mitgegebene Erbe von grasüberwachsenen Grabhügeln, verfallenen Türmen, alten Königsnamen, Kriegen und Sagen trieb sie zu einem Chaos hin, das die Erde, der zu lange die zügelnde Hand gefehlt hatte, langsam freisetzte. Sie
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