Erfindergeist
dieser Dietmar Becker herum. Meine Ausrede, dass ich Gerhard krankheitsbedingt kurzfristig vertreten musste, ließ Stefanie nicht zu. Noch schlimmer wurde es, als wir auf das Thema Cola kamen. Und am furchtbarsten, als ich ihr sagte, dass wir ihr Essen nicht einmal angerührt hatten. Dann klingelte das Telefon.
Stefanie stand direkt daneben. Sie zählte laut bis fünf und nahm ab.
Sie lauschte eine Weile und runzelte die Stirn. Wie es schien, war es niemand von der Inspektion, sonst wäre meine Frau längst explodiert. Plötzlich gab sie den Hörer an mich weiter. »Für dich, es geht um Jacques!«
Sofort kamen in mir die Erinnerungen an den gestrigen Tag hoch. »Ja, Palzki hier!«
»Guten Tag, mein Name ist Willibald Thorstetter. Ich bin Notar in Oggersheim. Es geht um Ihren Bekannten Jacques Bosco, der gestern unter tragischen Umständen ums Leben gekommen ist.«
»Woher wissen Sie das? Worum geht es genau, Herr Thorstetter?«
»Das will ich Ihnen gerne sagen. Ich habe für Herrn Bosco ein Dokument verwahrt, das ich Ihnen nach seinem Tod aushändigen soll.«
»Ein Dokument? Was steht da drin?«
»Herr Palzki. Ich bin zur Diskretion verpflichtet. Außerdem ist mir der Inhalt nicht bekannt, der Umschlag ist selbstverständlich versiegelt. Sie können ihn gerne bei mir abholen.«
Ich war sprachlos. Jacques hatte für den Fall seines Todes vorgesorgt. Ob es ein Testament war? Ich musste das so schnell wie möglich klären. Ich ließ mir die Adresse geben und vereinbarte einen sofortigen Termin. Ich klärte Stefanie kurz über den Umschlag auf, der bei dem Notar für mich hinterlegt war. Nachdenklich ließ sie mich ziehen.
Oggersheim war ein Stadtteil von Ludwigshafen wie jeder andere auch. Doch weil hier der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl wohnte, hatte sich der Ortsteil ›Oggersheim‹ in der Presse als eigenständiger Stadtname verselbstständigt. Ich benötigte nur eine Viertelstunde für meine Fahrt dorthin. Dummerweise brauchte ich 30 weitere Minuten, um die Adresse des Notars zu finden. Dabei fiel mir ein blöder Witz ein, den mir Jutta einmal erzählt hatte: ›Forscherinnen haben herausgefunden, warum Moses 40 Jahre mit dem Volk Israel durch die Wüste zog: Männer konnten noch nie nach dem Weg fragen.‹
Das war natürlich Blödsinn, ich hatte nach dem Weg gefragt, nachdem ich schätzungsweise zwei Drittel aller Oggersheimer Straßen abgefahren war.
›Willibald Thorstetter – Notar‹ stand auf der silbernen Tafel vor dem zweistöckigen Einfamilienhaus aus der Gründerzeit. Die Gründerzeit fiel für mich auf das Ende des 19. Jahrhunderts, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, ob das so stimmte. Der Vorgarten war ziemlich verwuchert und auch die Fenster warteten wahrscheinlich seit Jahren vergeblich auf eine Reinigung. Das Notariat befand sich im Obergeschoss. Eine knarrende und ausgetretene Holztreppe führte wenig vertrauenerweckend nach oben. Thorstetters Empfangsdame passte altersmäßig zu der überaus antiken Einrichtung. Als einzige technische Finesse konnte ich ein einfaches graues Telefon ausmachen, das erstaunlicherweise über Tasten verfügte. Selbst die Schreibmaschine war noch rein mechanisch.
Ich musste lediglich ein paar Sekunden warten, bis Herr Thorstetter aus seinem Büro kam. »Mutter«, sprach der weißhaarige Notar nach der Begrüßung die Empfangsdame an. »Würdest du mir bitte einen grünen Tee mit Zwieback machen? Möchten Sie auch etwas trinken?«, wandte er sich an mich.
Ich verneinte, und er führte mich in sein Büro. Thorstetter schien ebenfalls bereits im Rentenalter zu sein. Müde schlich er zu seinem repräsentativen Schreibtisch und setzte sich unter leichtem Stöhnen. Ich tat es ihm nach, allerdings ohne zu ächzen.
»Sie sind also Herr Palzki? Dürfte ich aus Sicherheitsgründen Ihren Ausweis sehen?«
Ich reichte ihm meinen Dienstausweis und meinen Personalausweis. »Oha, Sie sind ja Polizeibeamter. Davon wusste ich gar nichts.« Er öffnete seinen Schreibtisch und holte ein versiegeltes Kuvert hervor. »›Nach meinem Tod an Herrn Reiner Palzki zu übergeben‹«, las Herr Thorstetter vor. »Die Adresse stimmt mit Ihrem Ausweis überein. Bitte sehr …«
Er überreichte mir den Umschlag. Ratlos hielt ich ihn in der Hand.
»Sagen Sie, stört es Sie, wenn ich ihn gleich öffne?«
»Nein, nein, nicht im Geringsten, machen Sie ruhig.«
Es war eindeutig Jacques’ Schrift. Ohne zu fragen, schnappte ich mir den Brieföffner auf dem Tisch des
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