Erfolg
gesehen, mit leiblichen Augen gesehen hatte er das Unrecht jetzt zum erstenmal. Nun wußte er: was ging ihn der Mann Krüger an? Was kümmerte ihn der Uhrmacher Triebschener? Die dreihundert Fälle seines Buches »Geschichte des Unrechts in Bayern«, mochten sie noch so sauber und für das blödeste Auge klar herauspräpariert sein, sie waren allesamt belanglos. Mit so einfachen Mitteln war der volkstümlich souveränen Justiz des Dr. Klenk nicht beizukommen.
Er, Siegbert Geyer, muß mit den selbstherrlichen Waffen des Klenk kämpfen. Auch er wird sich nicht mehr um den einzelnen scheren. Es war Sentimentalität, dem vergewaltigten einzelnen helfen zu wollen. Dem Unrecht selber wird er zu Leibe gehen.
Im Innersten wußte er: ob er nach Berlin, ja, ob er nach Moskau gehen wird um seiner Theorie willen, für ihn wird das Unrecht immer nur eines einzelnen Gesicht haben. Es wird kleine, vergnügte Augen haben in einem rotbraunen, derbhäutigen Antlitz, es wird einen kräftigen, stark kauenden Mund haben und eine Lodenjoppe tragen.
Der Anwalt in seinem ungemütlichen Sessel verfiel vollends. Dann endlich mit einem Ruck raffte er sich zusammen. Mit einem kleinen Ächzen nahm er ein dickes Aktenbündel vor: »Geschichte des Unrechts im Lande Bayern vom Waffenstillstand 1918 bis zur Gegenwart. Fall 237.«
7
Herr Hessreiter diniert in München
Johanna Krain stand an der Straßenbahnhaltestelle, wartete auf einen der blaulackierten Wagen, der sie nach Schwabing fahren sollte zu Herrn Hessreiter. Der Abend war nebelig und kühl. Im Spiegel eines Schaufensters sah sie sich, imLicht der Bogenlampen, das Gesicht im Gegensatz zur Mode gar nicht geschminkt und nur wenig gepudert.
Jemand ging vorbei, grüßte höflich, unbeteiligt. Johanna wußte nicht genau den Namen. Es war ein Gesicht, wie es viele Männer aus der herrschenden Klasse jener Zeit trugen, klug, unter breiter Stirn etwas schläfrige, vorsichtige Augen. Ein Gesicht, wissend, wie fragwürdig modisch alle Wertung der Epoche war. Relativistisch. Die Träger solcher Gesichter, zugebend, der Fall Krüger sei des Zornes und des Mitleids wert, pflegten trotzdem Zorn und Mitleid zu verweigern; denn es gäbe zu viele solcher Fälle. Johanna kannte das, sie kannte Welt und Leben. Doch sie begriff es nicht. Denn sie selbst, so alltäglich das Elend wurde, das die politisierte Justiz jener Jahre über die Menschen brachte, wurde nicht stumpf. Empörte sich, schlug um sich, immer von neuem.
Ihr Wagen kam. Sie setzte sich in die Ecke, reichte mechanisch dem Schaffner den Fahrschein, überlegte. Hessreiter, trotzdem er nicht direkt zu den fünf Mächtigen gehörte, die Martin aus der Zelle heraushelfen konnten, war schon der Richtige. War nicht immer wieder, wenn sie mißgelaunt, überlegend, die vielen Gesichter ihrer zahlreichen Bekannten hatte vorüberziehen lassen, sein Gesicht gekommen? Jenes Gesicht, das sie gesehen hatte während ihrer peinlichen Aussage in dem großen, menschengefüllten Gerichtssaal. Ein verblüfftes Gesicht damals, ein bißchen dumm vor Verblüffung. Aber dann hatte der kleine, genießerische Mund dieses Gesichts sich aufgetan für sie, sie vor einer schmutzigen Frage des Staatsanwalts geschützt.
Ja, es war schon das richtige, daß sie ihn antelefoniert, daß sie seine zögernde Einladung, bei ihm zu Abend zu essen, ohne weiteres angenommen hatte. Sie spürte in der Ecke ihres Trambahnwagens eine gewisse Spannung. Das Abendessen bei dem wunderlichen Herrn Hessreiter war eine Art Debüt für sie, ein Versuch auf fremdem Boden. Wenn sie bisher mit Menschen zusammengewesen war, so hatte sie mit ihnen entweder über sachliche, berufliche Dinge oder derUnterhaltung wegen gesprochen. Jetzt sah sie sich plötzlich vor der Aufgabe, von einem fremden Menschen mir nichts, dir nichts etwas zu verlangen. Von früh auf an Selbständigkeit gewöhnt, gab sie ungern zu, daß sie allein mit einer Sache nicht fertig wurde. Das mit den gesellschaftlichen Beziehungen war eine ungemütliche Geschichte. Wie machte man das? Wie erreichte man einen Dienst ohne Gegendienst? Sie zog aus, um gesellschaftliche Beziehungen anzuknüpfen, wie auf eine Abenteuerfahrt in ein unbekanntes Land.
Martin Krüger hatte zuweilen konstatiert, sie habe keine Kinderstube. Das mochte stimmen. Sie rief sich ins Gedächtnis den unordentlichen Betrieb ihres Vaters, bei dem sie den größten Teil ihrer Jugend verlebt hatte. An dem heftigen, begabten Mann hatte, weiß Gott, sie mehr herumerzogen
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