Erfrorene Rosen
schmeckt.
Am Rand seines Blickfelds taucht eine Hand auf. Die Spitzen von Zeige- und Mittelfinger sind schwarz. Es ist Ollis Hand. Olli greift nach einem Skalpell. Jaatinen sieht entgeistert, dass sein eigenes, persönliches Skalpell von einer fremden Hand geführt wird und sich in den Hals der Leiche bohrt.
»Anfangs, schon vor langer Zeit, glaubte ich, Henry hätte eine andere«, lüftet Elli langsam und schluchzend ihr Geheimnis. »Allmählich kam dann die Wahrheit heraus. Weil Henry mit der Zeit immer sorgloser wurde. Wie lange er das getrieben hat, weiß ich nicht.«
Elli verliert sich in ihren Gedanken. Es ist, als überlege sie, ob ihre Entscheidung, Henry noch einmal sehen zu wollen, richtig oder falsch war. Denn diese Entscheidung hat dazu geführt, dass sie nun drei Unbekannten Dinge erzählt, die sie nie verraten wollte.
Olli bohrt und gräbt, schiebt mit der freien Hand verbranntes Gewebe zur Seite. Er trägt keine Schutzhandschuhe. Seine Finger werden immer schwärzer, je tiefer sie sich in die Leiche bohren. Endlich spießt die Messerspitze etwas auf, und Olli zieht. Mühsam und zäh gibt der Hals des Toten etwas Glänzendes frei.
»Anfangs wollte ich es nicht glauben. Dass Henry lieber dafür bezahlen will. Das war sein Problem. Etwas anderes hat ihn nicht mehr erregt. Ich habe mich rausgehalten. Ich dachte, wenn es Henry glücklich macht, kann ich ja so lange … weggehen.«
»Bezahlen?«, fragt Tossavainen verwundert.
»Henry mochte Huren«, gesteht Elli unumwunden und gibt sich einen Ruck, schluckt den klumpigen, bitteren Brocken herunter, der von ihrem Stolz noch übrig ist. »Er hat es bevorzugt, für Liebe zu bezahlen. Ich war ihm schon seit Langem nicht mehr gut genug.«
Die Handtasche fällt zu Boden. Elli braucht sich nicht mehr an sie zu klammern. Sie ist schon vor langer Zeit in einen bodenlosen Schacht gefallen, hat es sich nur nicht eingestehen wollen. Vielleicht hat sie es auch nicht gewagt. Aber jetzt muss sie einsehen, dass sie aus diesem Schacht womöglich nie wieder herauskommt.
»Was machst du da?«, zischt Jaatinen Olli zu.
Olli antwortet nicht, sondern greift mit der freien Hand nach seinem Fund, der zunehmend Ähnlichkeit mit einer goldenen Halskette aufweist. Er zieht an der Kette und hilft mit der Messerspitze nach, um sie aus dem Hals zu holen, in den die Hitze sie eingeschmolzen hat.
»Was zum Teufel tust du da eigentlich?«, wiederholt Jaatinen seine Frage, diesmal in deutlich schärferem Ton.
Olli gibt immer noch keine Antwort, sondern zieht weiter an der Kette, einem ganz normalen Panzergeflecht, bis sie sich schließlich im Hals verhakt. Er nimmt das Messer und beginnt die Stelle aufzuschneiden.
Jaatinen ist wie vom Donner gerührt. In seinem Reich ist die Revolution ausgebrochen. Seine Befehle und Fragen bleiben wirkungslos, in seinem Obduktionssaal haben unbekannte und ungeladene Personen unkontrollierbare Gefühlsausbrüche. Jaatinen fühlt sich entehrt. Er sieht Tossavainen an, dann noch einmal Olli, bindet die Schürze ab, pfeffert sie wütend auf den Tisch und geht.
Olli sieht ihm seufzend nach. Tossavainen wirft ihm einen Blick zu, nickt und führt Elli hinaus. Olli schaut ihnen hinterher, bis die Tür zufällt. Er hat das Gefühl, Elli zu verstehen. Sie wurde gefühllos ausgeraubt, ihr Leben ist nur noch ein klappriger, überfüllter Bus auf der endlosen Fahrt an einen anderen Ort, den er nie erreicht. Er versteht Ellis Garten. Das Einzige, was ihr geblieben ist. Über den Garten herrscht sie allein, sie hat ihn geschaffen. Er kann sie nicht betrügen, niemand kann ihn ihr wegnehmen. Nun begreift er auch, warum es in Ellis Wohnung keine Blumen gab, keine Trauerkarten, kein Anzeichen dafür, dass außer ihr jemals ein anderer in dieser Wohnung gelebt hat.
Elli war bereit, sich aufzuopfern. Das hat sie wirklich getan, bis zum Letzten. Denn trotz allem hat sie ihren Mann geliebt. Und sie wollte nicht allein sein, verlassen werden, und doch ist schließlich genau das geschehen. Das war zu viel für sie. Das konnte sie Henry nicht verzeihen. Deshalb existiert Henry nicht mehr, nicht einmal auf einem Foto.
Die Messerspitze bohrt sich wieder in den Hals. Kräftig, aber behutsam. Olli zieht. Aus dem Hals springt ein von Ruß, Blut und Gewebeflüssigkeit verschmutztes goldenes Kreuz. Olli lässt die Kette los und erstarrt, tritt schwankend einen Schritt zurück, dann noch einen. Er will seinen Augen nicht trauen.
Dieses Kreuz ist ihm nur allzu bekannt. Er
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