Erfuellung
Reaktion. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er es überhaupt spürte.
Raúl erwartete uns bereits, als wir vor der Notaufnahme hielten. Er öffnete mir die Tür, ging dann um die Motorhaube herum und rutschte auf den Fahrersitz, sobald Gideon ausgestiegen war. Der glänzende Wagen war aus der Einfahrt verschwunden, noch bevor wir durch die automatische Eingangstür getreten waren.
Ich ergriff Gideons Hand, war aber erneut nicht sicher, ob er es bemerkte. Kurz darauf beanspruchte seine Mutter seine gesamte Aufmerksamkeit. Elizabeth Vidal stand auf, als wir in den gesonderten Wartebereich kamen, der uns gezeigt worden war. Sie würdigte mich kaum eines Blickes, sondern ging direkt auf ihren Sohn zu und umarmte ihn.
Er erwiderte die Umarmung nicht, aber er entzog sich ihr auch nicht. Sein Griff um meine Hand wurde fester.
Mrs. Vidal begrüßte mich nicht, sondern wandte mir stattdessen den Rücken zu und deutete auf das Paar, das ganz in der Nähe zusammen saß. Es handelte sich unverkennbar um Corinnes Eltern. Sie hatten sich bei unserem Eintreten mit Elizabeth unterhalten, was mir sonderbar erschien, weil zur selben Zeit Giroux ganz allein am Fenster stand und sich damit genau in der gleichen Außenseiterrolle befand, in die Elizabeth auch mich drängen wollte.
Gideon ließ meine Hand los, als seine Mutter ihn zu Corinnes Familie zog. Da ich mir so allein in der Eingangstür albern vorkam, ging ich zu Jean-François.
Ich begrüßte ihn mit gedämpfter Stimme. »Es tut mir wirklich leid.«
Er sah mich aus toten Augen an. Sein Gesicht schien um Jahre gealtert zu sein, seit wir uns einen Tag zuvor in dem Weinlokal getroffen hatten. »Was machen Sie denn hier?«
»Mrs. Vidal hat Gideon angerufen.«
»Natürlich hat sie das.« Er sah zu den Sitzreihen hinüber. »Es macht eher den Eindruck, als wäre er ihr Ehemann, nicht ich.«
Ich folgte seinem Blick. Gideon hockte vor Corinnes Eltern und hielt die Hand der Mutter. Ein ekelhaftes Angstgefühl überkam mich, und ich fror unwillkürlich.
»Sie wäre lieber tot, als ohne ihn zu leben«, sagte er tonlos.
Ich sah zu ihm zurück. Plötzlich wurde es mir klar. »Sie haben ihr von unserer Verlobung erzählt, nicht wahr?«
»Und jetzt sehen Sie sich an, wie gut sie die Nachricht aufgenommen hat.«
O nein. Ich machte einen unsicheren Schritt auf die Wand zu, da ich mich anlehnen musste. Wie konnte sie ignorieren, welche Wirkung ein Selbstmordversuch auf Gideon haben würde? So blind konnte sie doch nicht sein. Oder hatte sie von vorneherein auf seine Reaktion, seine Schuldgefühle, abgezielt? Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass jemand so berechnend sein konnte, aber der Erfolg gab ihr recht. Gideon war zurück an ihrer Seite – einstweilen zumindest.
Eine Ärztin betrat den Raum, eine freundlich aussehende Frau mit kurz geschnittenen silberblonden Haaren und blassblauen Augen. »Mr. Giroux?«
» Oui. « Jean-François trat einen Schritt auf sie zu.
»Ich bin Dr. Steinberg, die behandelnde Ärztin Ihrer Frau. Könnten wir uns einen Moment unter vier Augen sprechen?«
Corinnes Vater erhob sich. »Wir sind ihre Angehörigen.«
Dr. Steinberg lächelte höflich. »Ich verstehe. Allerdings muss ich mit Corinnes Ehemann sprechen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Corinne nach ein paar Tagen Ruhe wieder auf den Beinen sein wird.«
Sie verließ gemeinsam mit Giroux den Raum, wodurch sie zwar nicht mehr zu hören, aber weiterhin durch eine Glaswand zu sehen waren. Giroux überragte die kleine Ärztin, aber was immer sie ihm auch mitteilte, es ließ ihn sichtlich schrumpfen. Die Anspannung im Wartezimmer war kaum noch zu ertragen. Gideon stand neben seiner Mutter und verfolgte gebannt die herzzerreißende Szene, die sich vor unseren Augen abspielte.
Dr. Steinberg streckte die Hand aus und legte sie Jean-François auf den Arm, sprach dabei jedoch weiter. Nach einer Weile verstummte sie und ging. Er stand einfach da und starrte auf den Boden. Seine Schultern waren gebeugt, als würde eine riesige Last sie nach unten drücken.
Ich wollte schon zu ihm gehen, aber Gideon bewegte sich zuerst. Er hatte kaum den Warteraum verlassen und die Tür hinter sich zugezogen, da stürzte Giroux sich auf ihn.
Mit ungeheuer brutaler Wucht prallten die beiden Männer aufeinander. Ein markerschütternder Knall erfüllte den Raum, als Gideon gegen die dicke Glaswand gerammt wurde.
Irgendjemand schrie vor Schreck auf und rief dann sofort nach dem Sicherheitsdienst.
Gideon
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