Erich Kastner
geführt zu haben, das erlebt man nicht alle Tage! Ich übergab die fünfzig Schiffe dem Kaiser, und er übergab sie den Admiralen, die sie fünfzig Kapitänen übergaben. Sie waren alle miteinander völlig aus dem Häuschen, und der Kaiser sagte mir ins Ohr, daß er mir diese Tat nie vergessen werde. Dann ernannte er mich zum Nardak, also zum höchsten Würdenträger seines Reiches, und erhob mich in den erblichen Grafenstand. (Demnach könnte ich mich seitdem, auch in England, als »Graf von Liliput« bezeichnen. Doch ich habe von dem Titel niemals Gebrauch gemacht. Ich erzähle es nur der Vollständigkeit halber.)
Die Pfeilwunden wurden mit einer Heilsalbe aus der Hofapotheke kuriert. Und den Widerhaken, der im Augapfel steckte, entfernte der Leibarzt seiner Majestät, wobei er sich mit seiner Instrumententasche wie ein Bergsteiger anseilen lassen mußte, weil er sonst womöglich während der Operation von meinem Gesicht heruntergefallen wäre.
Auch sonst war der Kaiser sehr huldvoll. Schon am nächsten Tage, sagte er, wolle er den Obersthofschneider schicken, um mir ein neues Hemd anmessen zu lassen, aus feinstem Leinen, wie sich das für den Nardak gezieme, und wenn der Stoff in Liliput dafür ausreiche, auch einen gräflichen Anzug.
EIN NEUES HEMD UND NEUE FEINDE
Der Obersthofschneider kam mit dreihundert Gehilfen und zweihundert Näherinnen. Ich mußte mich auf den Boden legen. Leitern wurden aufgestellt. Man nahm mir stundenlang Maß. Dann mußte ich mich knien, und man nahm mir noch einmal Maß. Schließlich mußte ich mein altes Hemd ausziehen, und auch das wurde gemessen. Anscheinend ergab jede Art der Messung andere Resultate. Als man sich gar nicht einig wurde, maß der Obersthofschneider höchstpersönlich meinen Daumen und errechnete, nach einer nur ihm bekannten alten Geheimformel, wie lang und breit das Hemd und die Ärmel sein müßten. Mit dem Anzug kam man nicht zurande, weil im gesamten Reich nicht soviel Stoff der gleichen Sorte und Farbe aufzutreiben war, wie man gebraucht hätte. Aber das Hemd, hundertfach aus kleinen Rechtecken zusammengenäht, das wurde fertig. Ich besitze es heute noch. Es liegt im Schrank, oben im Schlafzimmer, und ich werde es der Londoner Schneiderakademie vererben.
Besonderen Spaß machte es mir, den zweihundert Näherinnen bei der Arbeit zuzusehen. Denn die Nähnadeln waren so klein, daß ich sie nicht sah. Und wenn die Mädchen den Zwirn einfädelten, sah ich weder die Nadel, noch das Öhr, noch den Faden, sondern nur die winzigen eifrigen Hände. Trotzdem ist das Hemd heute noch in bestem Zustand. So war ich nun also Nardak und Graf, wurde vom Volk verehrt, hatte ein neues Hemd und glaubte, alles sei in bester Ordnung.
Wie man sich doch täuschen kann! Seit meinem Sieg über die Flotte hatte ich heimliche Feinde, aber nicht etwa in Blefuscu, sondern in Liliput! Und wißt ihr, wer der mächtigste unter diesen Feinden war? Der Kaiser selber! Einen Tag nach meiner siegreichen Rückkehr hatte er mir befohlen, noch einmal hinüberzuwaten und auch die Transportschiffe zu holen. Dann sei Blefuscu völlig hilflos. Dann könne er die Insel besetzen, zu einer Kolonie machen und die ausgewanderten Liliputaner, die das Frühstücksei am dicken Ende aufschlügen, gefangennehmen oder, was noch klüger sei, an Ort und Stelle hinrichten lassen. Ich hatte mich geweigert. Ich hatte ihn beschworen, sich mit den fünfzig Kriegsschiffen zufriedenzugeben. Der Kaiser von Blefuscu werde sich auf Jahre hinaus hüten, Liliput anzugreifen, und das sei doch gewiß wichtiger als alter Haß und Blutvergießen. Die Feinde, hatte ich gesagt, würden bestimmt um Frieden bitten, und ein vernünftiger Friedensschluß sei tausendmal besser als der vollkommenste Sieg. Denn Unmäßigkeit räche sich nicht nur beim Essen und Trinken, sondern auch beim Erobern. Auch an Besiegten könne man sich überfressen.
Der Kaiser hatte den Kronrat einberufen, und der Kronrat hatte nicht ihm, sondern mir rechtgegeben! Und als eine Abordnung aus Blefuscu gekommen war und um Frieden gebeten hatte, war tatsächlich ein ziemlich vernünftiger Friedensvertrag unterzeichnet worden! Die Abordnung hatte sich bei mir bedankt und mich eingeladen, ihre Insel zu besuchen und Ehrengast ihrer Regierung zu sein! Die Zahl meiner Feinde wurde immer größer, und man schreckte nicht vor Verleumdungen zurück. So verbreitete man, die Frau des Finanzministers Flimnapp habe sich in mich verliebt und wolle meinetwegen ihren Mann
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