Erik der Wikinger
noch der ihre werden; aber auch wenn er nicht der ihre werden würde, Gudruda konnte er dann niemals haben.
»Grauer Wolf, Grauer Wolf, wie lautet dein Rat?«
Direkt am Rand des tiefen Abgrundes saß Gudruda. Ein Stoß, und alles wäre zu Ende. Erik war fort; es gab niemanden, der es sehen würde – niemanden bis auf den Grauen Wolf; keine Zunge konnte von der Tat berichten, die hier geschehen war. Wer könnte sie zur Rechenschaft ziehen? Die Götter! Wer waren die Götter? Was waren die Götter? Waren sie nicht nur Träume? Es gab keine Götter außer den Göttern des Bösen – den Göttern, die sie kannte und mit denen sie sprach.
»Grauer Wolf, Grauer Wolf, was ist dein Plan?«
Dort saß Gudruda und lachte im Triumph ihrer Freude; der Glanz des Sonnenuntergangs schimmerte auf ihrer Schönheit, und dort, hinter ihr, schlich Swanhild näher – schlich, wie sich ein Fuchs an seine schlafende Beute heranmacht.
Nun hatte sie sie erreicht …
»Ich höre dich, Grauer Wolf! Zurück in meine Brust, Grauer Wolf!«
Sicher hatte Gudruda etwas gehört? Sie wandte halbwegs den Kopf, senkte ihn dann jedoch wieder, um laut dem Wasser zuzurufen: »Erik! Geliebter Erik! – Ah, wird es je ein Licht geben, das dem deiner Augen gleichkommt – und gibt es je eine Freude wie die deines Kusses?«
Swanhild hörte diese Worte, und ihr letztes Mitleid erstarb. Haß und Zorn überwältigten sie. Sie erhob sich auf die Knie und sammelte ihre Kraft: »Suche deine Freude dann im Goldfuchs«, rief sie laut und stieß mit aller Kraft zu.
Gudruda fiel einen Klafter oder mehr; mit einem Schrei klammerte sie sich dann an einen kleinen Felsvorsprung und blieb dort hängen, die Füße auf dem Abhang ruhend. Dreißig Klafter unter ihr wirbelten, strömten und rollten die Wasser des Goldenen Falls. Ein Klafter über ihr, rot im roten Abendlicht, senkte sich Swanhilds gnadenloses Gesicht. Gudruda schaute hinauf und sah sie. Blaß vor Todesangst schaute sie auf und sah das Gesicht, doch sie sagte nichts.
»Laß los, meine Rivalin; laß los!« rief Swanhild. »Es wird dir niemand helfen, und keiner kann deine Geschichte erzählen. Laß los, sage ich, und suche dein Ehebett im Goldfuchs!«
Aber Gudruda klammerte sich fest und blickte mit blassem Gesicht und mitleidsvollen Augen empor.
»Was! Bist du so begierig, noch einen Augenblick länger zu leben?« sagte Swanhild. »Dann werde ich dich vor dir selbst retten, denn es muß schlimm sein, so zu leiden!« Und sie lief davon, um einen Felsbrocken zu suchen. Dann fand sie einen, schleppte ihn, unter seinem Gewicht schwankend, bis zum Rand des Abgrundes und spähte hinunter. Gudruda hing noch immer dort. Unter ihr klaffte der Abgrund auf, das Wasser toste in ihren Ohren, und über ihr leuchtete der rote Himmel. Sie sah Swanhild kommen und schrie auf.
Erik war da, obwohl Swanhild ihn nicht hörte, denn das Geräusch der galoppierenden Hufe seines Pferdes verlor sich im Toben des Wassers. Aber der Schrei drang an seine Ohren, er sah den vorspringenden Felsen, und alles war ihm klar. Er sprang vom Pferd, und gerade, als Swanhild den Felsbrocken werfen wollte, packte er sie am Kleid und riß sie zurück. Der Brocken fiel zur Seite und verschwand augenblicklich im Wasser.
Erik schaute hinunter. Er sah Gudrudas bleiches Gesicht in der Dämmerung leuchten. Obwohl es nicht einfach war, sprang er auf den Vorsprung hinab.
»Halt dich fest! Ich komme; halt dich fest!« rief er.
»Ich kann nicht mehr«, keuchte Gudruda, und eine Hand glitt vom Fels.
Erik umklammerte den Fels und packte sie, sich nach unten streckend, am Handgelenk. Als ihre Hand losließ, packte er sie, und sie wurde in die Höhe gezogen – ihr ganzes Gewicht an seinem Arm.
Nun mußte er sie hochziehen, und das mit einer Hand, denn der Vorsprung war eng, und er wagte es nicht, den Felsen oben loszulassen. Sie schwang über den gewaltigen Abgrund und verlor die Besinnung, hing in seinem Griff wie tot. Er sammelte seine ganze Kraft und zog. Seine Füße glitten ein wenig aus, fanden dann Halt, und wieder hing Gudruda über dem Abgrund. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, es hämmerte in seinen Ohren. Nun galt es – jetzt oder nie! Wieder hob er den Arm, und seine Muskeln wölbten sich und knirschten, und sie lag neben ihm auf dem engen Vorsprung!
Aber noch war nicht alles getan. Der Klippenrand lag eine Manneshöhe über ihm. Dorthin mußte er sie legen, denn er konnte sie nicht zurücklassen, um Hilfe zu holen, weil sie
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