Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
weit hinaus zu der noch unsichtbaren Insel, die Inhaca hieß.
»So weit, dass wir fast kein Land mehr sehen«, versuchte sie zu erklären, unsicher, ob der Fischer Portugiesisch sprach oder nicht.
Er lächelte zur Antwort. Das Lächeln machte Ana ganz ruhig. Die albtraumhafte Entdeckung des Kinderfriedhofs hatte sie wie in einem Würgegriff gehalten. Jetzt legte sich das Gefühl. Sie ließ eine Hand über die Bordwand ins Wasser hängen. Es war zugleich warm und kühlend. Ein paar Seevögel kreisten über ihrem Kopf. Sie waren wie Funken aus der Sonne, die kamen und gingen. Weiße Funken, die schließlich einen Heiligenschein über dem Boot bildeten, das blau, rot und grün gestrichen war. Columbus hatte eine Pfeife angezündet und hielt den Blick auf den Horizont gerichtet. Ana packte den Anker in den Sack, ließ Carlos das rostige Eisen umarmen und schnürte den Sack dann so zusammen, wie es ihr von Lundmarks Bestattung in Erinnerung war. Vielleicht treffen sie sich, dachte sie. Konnte es irgendwo in der Tiefe eine Begräbnisstätte geben, wo sich alle schließlich versammelten? Der Gedanke war kindisch, das wusste sie. Aber niemand kümmerte es in diesem Moment, was sie dachte, am allerwenigsten Columbus mit der Pfeife im Mundwinkel.
Ein Schwarm spielerischer Delphine folgte dem Boot. Carlos würde nicht in Einsamkeit begraben werden, dachte Ana. Die Delphine tauchten, schwammen dicht neben dem Boot und verschwanden dann wieder in der Tiefe. Sie fühlte eine fast unbezwingbare Lust, Berta von diesen Delphinen und dem merkwürdigen Bestattungszug zu erzählen. Wenn sie Isabels Eltern gefunden hätte, würde sie endlich eine Richtung vor sich sehen, der sie folgen konnte: Ich möchte Berta unbedingt von einem toten Affen erzählen, von schwimmenden Delphinen und von mir selbst in dem Moment, in dem ich mich meinem zweiten großen Aufbruch im Leben nähere.
Sie fuhren weiter auf den Horizont zu. Die Stadt verlor sich im Dunst. Ana dachte, jetzt hätten sie den Punkt gefunden, nach dem sie suchte.
»Lass uns das Segel einholen«, sagte sie. »Hier ist es gut.« Columbus steckte die Pfeife unter sein zerschlissenes Hemd, reffte das Segel und band es am Mast fest. Das Boot schaukelte sacht auf den Wellen. Delphine umkreisten es im Abstand. Seevögel über ihren Köpfen kreischten wie verstimmte Instrumente. Columbus half ihr, den Sack über die Bordwand zu heben und ihn mit einem leisen Platschen ins Wasser fallen zu lassen. Sie sah den Sack langsam durch das Wasser sinken. Einer der Delphine streifte ihn, zog sich dann aber wieder zurück, nachdem er seinen letzten Gruß vorgebracht hatte.
Als Ana den Sack nicht mehr sehen konnte, fühlte sie sich einsamer als je zuvor. Aber es erschreckte sie nicht. Jetzt war sie dabei, aus einer Welt auszubrechen, in der sie keine Freunde haben konnte. Mit den Weißen, die in der Stadt lebten, empfand sie keine Gemeinschaft, die Schwarzen sahen sie nur als eine Obrigkeit, der sie gehorchen mussten, und vertrauten ihr nicht.
Senhor Vaz hatte ihr ein Halsband geschenkt, als sie heirateten. Jetzt riss sie es sich plötzlich vom Hals und warf es ins Wasser. Ein Seevogel tauchte rasch, aber nicht schnell genug, um die Kette zu erwischen.
Sie kehrten zur Stadt zurück und legten am Kai an. Ana bezahlte Columbus und drückte seine Hand. Sie fragte sich, wie viele Jahre er für so viel Geld fischen müsste. Aber Columbus schien unberührt von dem Geldscheinbündel. Er bot ihr weiterhin nur sein stilles Lächeln, sah ihr aber nicht nach, als sie mit Vanji zum Auto zurückkehrte.
Ana hielt am Hafenkontor, um sich zu erkundigen, wann der nächste Küstendampfer nach Beira die Stadt verlassen würde. Sie hatte Glück. Ein Schiff würde in zwei Tagen ablegen, um sechs Uhr morgens. Sie buchte, bezahlte für die größte Kabine an Bord und dachte, alles sei plötzlich sehr leicht. Sie musste jetzt nur noch dafür sorgen, dass die Fotografien ins Bordell kamen, sich von den Frauen und den Dienstboten verabschieden und all ihre Schlüssel abgeben. Genau das, sich von den Schlüsseln zu befreien, die sie ständig mit sich herumtrug, war etwas, wonach sie sich sehnte.
Die letzten Tage verwendete sie darauf, zwei leichte Taschen zu packen. Mit Andrade vereinbarte sie, dass ihre eigenen und Senhor Vaz’ Kleider an Bedürftige verteilt wurden. Sie behielt nur ihre Fotografien, Lundmarks Logbuch und ihr Tagebuch. Alles andere gab sie weg.
Am Nachmittag vor der Abreise versammelte Ana ihre
Weitere Kostenlose Bücher