Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
der am Flussufer angeschwemmt worden war. Es war das einzige Grab, das sie in ihrem bisherigen Leben gegraben hatte. Jetzt würde sie einem Affen die letzte Ruhestätte bereiten und dann ihn und den Baum verlassen, um nie wiederzukehren.
Sie krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und knöpfte sie am Hals auf, da es schon sehr warm war. Es duftete von einem kleinen Zitronenbaum, den Senhor Vaz im Garten gepflanzt hatte.
Der Spaten stieß auf etwas, was sie zunächst für einen Stein hielt. Aber als sie sich hinunterbeugte und den Gegenstand aufhob, sah sie, dass es ein Knochen war. Ein Hühnerknochen, dachte sie. Jemand hat hier gesessen und daran genagt und ihn dann weggeworfen. Sie fuhr mit dem Graben fort. Neue Knochen tauchten in der Erde auf, die sie wegschaufelte.
Der Spaten schlug gegen einen größeren Stein, der merkwürdig hohl klang. Als sie ihn hochhob, sah sie, dass es ein Schädel war. Ein sehr kleiner Schädel. Sie hielt inne und dachte, es müsse ein Affenschädel sein.
Dann erkannte sie, dass es der Schädel eines Kindes war. So klein, dass er vielleicht einem Neugeborenen gehört hatte.
Ein heftiges Unbehagen befiel sie. Aber sie grub weiter. Überall stieß sie jetzt auf Knochen und Teile von Schädeln. Es waren keine Hühnerknochen, wie sie erkannte, es waren Teile von menschlichen Skeletten. Ihr wurde übel, aber sie hörte nicht auf zu graben. Sie wollte Carlos an diesem Morgen beerdigen, und sie wollte fertig sein, ehe das Bordell zum Leben erwachte.
Sie verstand schließlich, dass das, was sie im Begriff war aufzudecken, ein Massengrab von Ungeborenen und Neugeborenen war. Ein Friedhof der ungewollten Kinder, die erstickt oder auf andere Weise getötet worden waren. Hier beerdigt, um von den Prostituierten und den unbekannten Erzeugern schnell vergessen zu werden. Und alle waren eine Mischung aus Schwarz und Weiß gewesen.
Schließlich stieß sie den Spaten in die Erde und setzte sich auf die Bank. Sie litt. Vor ihr war der Boden mit Kinderknochen übersät. Es war, als hätte sie erst an diesem Morgen in vollem Umfang aufgedeckt, in was für einer Welt sie gelebt hatte. Die Übelkeit hatte sich jetzt in ein Gefühl des Entsetzens und des Grauens verwandelt.
Von Ana unbemerkt, hatte Felicia den Hof betreten. Sie trug einen ihrer schönen Morgenmäntel aus Seide und sah mit ausdruckslosem Gesicht auf die ausgehobene Erde und die Knochen.
»Warum gräbst du das aus?«, fragte sie.
Anstelle einer Antwort riss Ana den Sack hoch und zeigte ihr Carlos’ verschrumpelten Körper.
»Hast du gewusst, dass dies ein Friedhof ist?«, fragte Felicia erstaunt.
»Nein. Ich wusste nichts. Ich wollte nur Carlos unter dem Baum einen schönen Ruheplatz geben.«
»Warum hast du Carlos erschlagen?«
Ana wunderte sich nicht über Felicias Frage. Etwas hatte sie in ihrer Zeit in der Stadt gelernt. Weißen Menschen traute man einfach alles zu, selbst die unerklärlichsten oder grausamsten Handlungen.
»Ich habe ihn nicht getötet.«
Sie erzählte, was draußen auf Pedro Pimentas Farm geschehen war. Als Ana den Namen von Ana Dolores aussprach, merkte sie, dass Felicia ihr glaubte.
»Ana Dolores ist ein gefährlicher Mensch«, sagte Felicia. »Sie ist umgeben von bösen Geistern, die töten können. Ich habe niemals verstanden, wie sie ein Leben als Krankenschwester leben konnte.«
Ana hatte das Gefühl, Felicia sei von den Knochen, die ausgegraben vor ihr lagen, überhaupt nicht unangenehm berührt. Das verstärkte ihr Unbehagen.
»Begrab ihn hier«, sagte Felicia. »Hier wird er es gut haben.«
Felicia drehte sich um und wollte gehen. Aber Ana streckte die Hand aus und griff nach ihrem Morgenmantel. »Eine Frage musst du mir beantworten«, sagte sie. »Dass all diese abgetriebenen Föten und getöteten Kinder ein Ergebnis dessen sind, was hier im Bordell geschieht, begreife ich. Aber ich will etwas anderes wissen. Und ich will, dass du mir ehrlich antwortest.«
»Ich bin immer ehrlich«, sagte Felicia.
Ana schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Das bist du nicht. Das bin ich auch nicht. Ich habe in dieser Stadt keinen einzigen Menschen getroffen, der immer die Wahrheit sagt. Aber jetzt will ich, dass du sagst, wie es ist. Liegt mein toter Fötus auch hier begraben?«
»Ja. Laurinda hat ihn hier begraben. Sie machte ein Loch und leerte den Eimer hinein.«
Ana nickte stumm. Gerade in diesem Augenblick war es, als würde sie alles von ihrer Zeit in der Stadt umfassen und verstehen, von dem
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