Erinnerungen der Kaiserin Katharina II.
oder wir unternahmen einen Spaziergang. Nachdem ich ungefähr acht Tage auf diese Weise gelebt hatte, fühlte ich mich doch sehr angegriffen und begann an Kopfweh zu leiden. Ich mußte einsehen, daß mir Ruhe und Diät nötig waren, und aß daher vierundzwanzig Stunden lang nichts, trank nur frisches Wasser, schlief zwei Nächte so viel ich konnte, worauf ich dieselbe Lebensweise von neuem begann und mich dabei sehr wohl befand. Ich erinnere mich, daß ich damals Brantomes Memoiren las, die mich sehr amüsierten; vorher hatte ich das Leben Heinrichs IV. von Perifix gelesen.
Zu Anfang des Herbstes kehrten wir in die Stadt zurück und erfuhren, daß wir den Winter in Moskau zubringen würden. Madame Kruse meldete mir bei dieser Gelegenheit, daß ich meine Wäsche ergänzen müsse. Ich beschäftigte mich also mit den einzelnen Stücken, während Madame Kruse michdamit zu unterhalten suchte, daß sie die Leinwand in meinem Zimmer zuschneiden ließ, um, wie sie sagte, mir zu zeigen, wie viel Hemden aus einem Stück gemacht werden könnten. Dieser Unterricht oder Zeitvertreib mißfiel aber offenbar Madame Tschoglokoff, die seit der Entdeckung der Untreue ihres Gemahls in noch schlechterer Stimmung war als vorher. Ich weiß nicht, was sie der Kaiserin sagte, aber eines Nachmittags meldete sie nur, daß Ihre Majestät Madame Kruse des Dienstes bei mir enthebe, die sich zu ihrem Schwiegersohn, dem Kammerherrn Sievers, zurückziehen werde. Tags darauf brachte sie mir Madame Wladislawa, die ihre Stelle bei mir einnehmen sollte. Sie war eine Frau von hoher, vornehmer Gestalt, deren geistvoller Gesichtsausdruck mir sogleich gefiel. Ich befragte sogleich mein Orakel Timotheus Nevreinoff über diese Wahl, der mir erzählte, diese Dame, die ich nie vorher gesehen, sei die Schwiegermutter des Staatsrates Pugowischnikoff, ersten Sekretärs des Grafen Bestuscheff. Es fehle ihr weder an Geist noch an Heiterkeit, aber sie gelte für sehr verschlagen, und ich müsse sehen, wie sie sich benehmen werde und ihr vor allem kein zu großes Vertrauen entgegenbringen. Sie hieß Praskowia Nikitischna. Sie debütierte vortrefflich, war gesellig, sprach gern und geistreich, kannte alle Anekdoten der Vergangenheit und Gegenwart aufs gründlichste, war in die Geschichte von vier bis fünf Generationen aller Familien eingeweiht, hatte die Genealogie der Väter, Mütter, Großmütter und der väterlichen und mütterlichen Ahnen der ganzen Welt frisch und fertig in ihrem Gedächtnis. Und in der Tat hat mich niemand besser als sie über das unterrichtet, was seit hundert Jahren in Rußland vorgegangen war. Geist und Benehmen dieser Frau sagten mir ungemein zu, und wenn ich mich langweilte, ließ ich sie plaudern, wozu sie stets bereit war. Bald auch entdeckte ich, daß sie die Worte und Handlungender Tschoglokoffs sehr oft mißbilligte; da sie indes öfters in die Gemächer Ihrer Majestät ging, ohne daß man im geringsten wußte weshalb, hütete man sich bis zu einem gewissen Punkte vor ihr, weil man nicht sicher war, wie die unschuldigsten Worte oder Handlungen ausgelegt werden konnten.
Aus dem Sommerpalast zogen wir in den Winterpalast. Hier wurde uns Madame La Tour l'Annois vorgestellt, die in ihrer frühesten Jugend im Dienste der Kaiserin gestanden und die Fürstin Anna Petrowna, die älteste Tochter Peters I. begleitet hatte, als diese beim Regierungsantritt Peters II. Rußland mit ihrem Gemahl, dem Herzog von Holstein, verließ. Nach dem Tode der Fürstin war Madame L'Annois nach Frankreich zurückgekehrt und gegenwärtig nach Rußland gekommen, um sich hier dauernd niederzulassen, oder auch um sich wieder zu entfernen, nachdem sie von Ihrer Majestät einige Gnadenbezeigungen erhalten. Madame L'Annois hoffte, sie werde wegen ihrer alten Bekanntschaft die Gunst und das Vertrauen der Kaiserin erlangen, aber sie täuschte sich sehr, denn alle ließen es sich angelegen sein, solches zu verhindern. Schon während der ersten Tage ihres Aufenthaltes sah ich das Resultat voraus, und zwar auf folgende Weise. Eines Abends, als man im Zimmer der Kaiserin beim Spiele saß, kam und ging Ihre Majestät von einem Zimmer ins andere, ohne sich, wie das ihre Gewohnheit war, an irgend einem Platze niederzulassen. Madame L'Annois, die ihr augenscheinlich den Hof zu machen hoffte, folgte ihr auf Schritt und Tritt. Als die Tschoglokoff das sah, flüsterte sie mir zu: »Sehen Sie doch, wie diese Frau die Kaiserin verfolgt, aber das wird nicht lange dauern, man wird
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