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Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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erforderlich sein. Ich wollte der armen Seele in der Gasse helfen. Aber ich würde es vorsichtig und klug anstellen. Zaghaft trat ich in die Dunkelheit, als ein eiskalter Schauer mir über den Rücken lief und mich erstarren ließ. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte ich es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen und keinen Schritt weitergehen dürfen.
    „Hier drüben“, stöhnte er und lockte mich näher zu sich. Näher, bis die beleuchtete, belebte Straße außer Reichweite lag. Und als ich nahe genug war, aber in der Dunkelheit immer noch blind, fiel er über mich her. Knochige starke Arme umfassten mich, zerquetschten mich fast. Eine Hand drückte auf meinen Mund. Ich wehrte mich. Heftig wehrte ich mich. Denn obwohl strenggläubig, war ich nie schüchtern oder schwach oder feige gewesen. Ich trat mit einer Wucht nach ihm, die ihm das Schienbein hätte brechen müssen. Und ich schlug ihm so fest gegen die Ohren, dass ich mit seiner Bewusstlosigkeit rechnete. Ich zappelte, wehrte mich gegen seinen Griff und versuchte, in die Hand auf meinem Mund zu beißen. Aber nichts schien zu wirken. Er zuckte nicht zusammen, holte nicht einmal tief Luft. Mein Herz schlug so heftig, dass ich fast taub davon wurde, als er mich tiefer in die Gasse zerrte. Ich betete um Befreiung aus den Klauen dieses Wahnsinnigen und um mein Leben. Herr, vergib mir meinen Irrtum. Ich hätte für meine unsterbliche Seele beten sollen.
    Er warf mich so brutal zwischen den Abfall, dass mir der Atem wegblieb. Und dann stürzte er sich auf mich, als ich auf dem stinkenden Unrat nach Luft schnappte. Der Gestank war ekelerregend. Ich wollte schreien, doch er hielt mir den Mund wieder zu. Er hockte breitbeinig auf mir, riss mir mit der freien Hand den Schleier vom Kopf, befreite mein Haar und packte Strähnen davon mit den Fäusten.
    „Schwarzer Satin“, flüsterte er, während er mein Haar befingerte. „Und Augen wie Onyx. Du bist perfekt.“ Ich wand mich unter ihm. „Perfekt. Jetzt werde ich nicht mehr allein sein.“
    Ich konnte ihn noch immer kaum erkennen. Nur den Umriss seines Gesichts und die dunklen Augenhöhlen waren sichtbar. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich ganz genau sah.
    „Ich beobachte dich schon lange, weißt du. Von den vielen, die ich kenne, habe ich dich auserwählt. Du solltest mir dankbar sein für das Geschenk, das ich dir mache, Angelica.“
    Ich wollte den Kopf schütteln – vergeblich.
    „Ja. Dankbar“, fuhr er fort. „Für dich gibt es keinen klösterlichen Orden. Kein Gelübde. Dafür bist du nicht bestimmt. Du bist für mich bestimmt.“
    Das Monster beugte sich über mich und hob mich leicht von meinem Bett aus Abfall hoch. Er beugte sich über meinen Hals; mir drehte sich der Magen um, als ich spürte, wie er mit seinem kalten Mund meine Haut berührte. Mit einer Hand drückte er mir den Kopf nach hinten, bis ich dachte, mein Genick würde brechen. Und dann kam der Moment, den ich in meinem Leben nie mehr vergessen werde. Der Moment, den ich mir im Traum nie hätte vorstellen können. Ich dachte, er würde mich vergewaltigen und ermorden. Die verschiedensten Szenarien schwirrten mir in Sekundenschnelle durch den Kopf, als sich die Kreatur in jener Nacht über mich beugte. Aber daran dachte ich nie.
    Ich verspürte Schmerz – einen kurzen, schockierenden Schmerz, als er die zarte Haut an meinem Hals mit seinen Eckzähnen durchbohrte. Dann ließen die Schmerzen nach, und mich erfüllte Grauen darüber, was mit mir geschah. Er saugte an meinem Hals und das Leben aus mir heraus. Ich spürte, wie es durch die beiden winzigen Löcher in meiner Haut entschwand. Mir wurde schwindelig. Alles verblasste. Der Gestank des Mülls und die Kälte der Winternacht. Das Gefühl der feuchten Schneeflocken auf meinem Gesicht. Der Müllhaufen, auf dem ich lag. Alles verschwand, und mir blieb nichts. Jeder Aspekt meines Daseins schrumpfte auf die winzige Stelle, wo sich das Monster festgesaugt hatte. Es gab im ganzen Universum nichts anderes mehr als meinen Hals und seinen Mund, mit dem er mir das Blut aussaugte.
    Er hob den Kopf. Ich blieb still liegen, da ich mich weder bewegen noch einen Ton herausbringen konnte. Er regte sich, und da sah ich ein silbernes Funkeln. Ich erschrak nicht einmal beim Gedanken, dass er ein Messer hatte. Dass er ein Ende machen würde. Ich hörte nichts. Der Lärm der Stadt drang nicht mehr zu mir durch. Nur seine Stimme.
    Er hob mich hoch, drückte mein Gesicht an seinen Hals

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