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Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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Gelübde hätte ich eine Woche nach jener schrecklichen Nacht ablegen sollen. Nur eine Woche. Wäre ich vor dem Monster sicher gewesen, hätte ich den Schleier früher genommen? Kann ein fester Glaube Schutz vor solcher Übermacht sein?
    „Ich bin verflucht“, murmelte ich abermals und sank auf die Stufen einer prachtvollen Kathedrale nieder. Weder die Türme noch die prächtigen Buntglasfenster interessierten mich. Ich konnte sie nicht ansehen. Meine Augen schienen vor dem himmlischen Blau und Grün und Gold zurückzuscheuen. Einzig und allein die scharlachroten Scherben fesselten meinen Blick. Dann regte sich Gier in den tiefsten Tiefen meiner Seele. Eine sündige Gier, die ich nicht stillen konnte – nicht stillen wollte .
    Ich war, den ernst gemeinten Warnungen der Schwestern zum Trotz, in jener Winternacht allein hinausgegangen …
    Die weichen Sohlen meiner Schuhe quietschten, als ich die Holztreppe zu meiner Kammer hinunterlief. Ich konnte es kaum erwarten. Es schneite! Der erste Schnee des Winters, und ich liebte Schnee so sehr. Kurze Zeit zuvor war ich in meiner Kammer auf und ab gegangen, konnte mich aber weder auf meine Studien noch auf sonst etwas konzentrieren. Ich beobachtete unablässig die kleine weiße Uhr an der Wand und registrierte stirnrunzelnd, wie langsam die Zeiger vorrückten, ehe ich mich wieder dem kleinen Fenster zuwandte und sehnsüchtig hinausblickte.
    Streng genommen waren wir kein klösterlicher Orden. Wir gingen hinaus in die Welt, aber nur, um dem Herrn zu dienen oder wenn Mutter Mary Ruth es für zwingend nötig hielt. Heute sollte ich im wenige Häuserblocks entfernten Obdachlosenasyl arbeiten. Eigentlich hätte ich mich darüber freuen sollen, dass ich meinen Mitmenschen in Zeiten der Not helfen und damit Gott dienen durfte – doch ich wollte einfach nur in den frisch gefallenen Schnee hinaus.
    Ich legte mir einen leichten Schal über meine Tracht, eine einfachere Version der vorgeschriebenen Kleidung für die Schwestern. Bald würde ich eine solche Tracht auch tragen dürfen. In etwas mehr als einer Woche würde ich mein feierliches Gelübde ablegen.
    Beim Anblick von Schwester Rebecca verlangsamten sich meine Schritte. Wir sollten gemeinsam zum Obdachlosenasyl gehen, doch nun stand sie am Treppenpfosten und sah aus, als wäre ihr schrecklich übel.
    „Schwester, was ist los?“ Ich befürchtete bereits, mein Ausflug in den Schnee könnte doch noch vereitelt werden. Im Obdachlosenasyl arbeiteten wir stets zu zweit. Gingen stets gemeinsam hin und wieder zurück.
    „Darmvirus, vermute ich“, antwortete sie niedergeschlagen. Sie war jung, wie ich. Ihr feierliches Gelübde hatte sie erst vor einem Jahr abgelegt, und eigentlich war es ein Jammer, dass sie, schön wie sie war, nie geheiratet und Kinder bekommen hatte. Bei dem Gedanken stahlen sich leise Zweifel an meinem eigenen Handeln in mein Bewusstsein, doch ich verdrängte sie. Ein anderes Leben als dieses hatte ich nie gekannt. An die Zeit, bevor meine Mutter mich hier ablieferte, erinnerte ich mich kaum. Ich hätte mich in der Welt nicht zurechtgefunden. Außerdem wollte ich gut sein. Und es gab keine bessere Möglichkeit, oder?
    „Keine Bange“, meinte Schwester Rebecca, hob tapfer den Kopf und versuchte, die gequälte Miene mit einem Lächeln zu kaschieren. „Ich kneife nicht. Du hast dich den ganzen Tag darauf gefreut.“
    Sah man mir das so deutlich an? Ich wandte das Gesicht ab. „Nein, Schwester Rebecca. Du darfst nicht ausgehen, wenn du dich so schlecht fühlst. Du müsstest das Bett hüten.“ Ich drückte ihr eine Hand auf die Stirn und spürte die Wärme. Dann drehte ich sie um und half ihr die Treppe hinauf. „Geh nach oben und ruh dich aus. Ich kann mich auch ohne eine Gefährtin am Rande des Zusammenbruchs um die Bedürfnisse der Obdachlosen kümmern.“
    Sie erstarrte, wie nicht anders zu erwarten. „Du gehst auf keinen Fall allein hinaus! Du kennst die Regeln der Mutter Oberin!“
    „Sie würde bestimmt eine Ausnahme machen, wenn sie wüsste, dass du krank bist.“
    „Nein. Sie würde darauf bestehen, dass du hierbleibst.“
    „Ein Glück für mich, dass sie nicht da ist.“
    Schwester Rebecca schüttelte langsam den Kopf. „Sieh dich nur an! Deine Augen leuchten regelrecht. Was versetzt dich so in Aufregung, Angelica?“
    „Der Schnee“, sagte ich, wirbelte herum und blieb stehen, als ich durchs Fenster die Schneeflocken sah, die draußen im Licht der Straßenlampe tanzten. „Ich möchte

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