Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MAGGIE SHAYNE
Vom Netzwerk:
draußen sein. Ihn auf dem Gesicht spüren.“
    Sie legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. „Es ist nicht der letzte Schnee, Angelica.“
    „Aber der erste. Bitte lass mich gehen. Ich bin eine erwachsene Frau. Erwachsene Frauen gehen jeden Tag allein durch diese Stadt.“
    „Keine Frauen dieses Ordens…“, begann sie.
    „An sich gehöre ich nicht zu diesem Orden … noch nicht. Also kann ich tun und lassen, was ich will.“
    „Angelica …“
    Auf dem Weg zur Tür blieb ich stehen und drehte mich noch einmal zu ihr um.
    Sie lächelte, die glänzenden Augen und rosigen Wangen verrieten das Fieber. Eine blonde Locke ragte unter der Haube hervor und schmiegte sich an ihre Wange. „Du bist eine sehr willensstarke junge Frau, Angelica“, sagte sie, immer noch lächelnd. „Und abenteuerlustig und mehr als nur ein wenig schalkhaft. Manchmal frage ich mich, ob du wirklich gründlich genug über deine Entscheidung nachgedacht hast.“
    Ich zuckte nur mit den Achseln. „Ich gehe zum Obdachlosenasyl. Mutter Oberin kann mir eine Standpauke halten, wenn ich zurückkehre, aber bis dahin war ich wenigstens draußen.“
    Sie nickte und gab sich geschlagen. „Dann beeil dich. Verpass nicht den Bus. Falls doch, kommst du unverzüglich wieder hierher …“ Aber ich war schon zur Tür hinaus.
    Oh, dieser wunderbare Schnee! Ich hatte den Winter immer geliebt. Ich hob das Gesicht, ließ die eiskalten, nassen Flocken auf Wangen und Nase fallen und kostete sie sogar wie ein kleines Kind. Sie überzogen alles, so weit das Auge reichte, parkende Autos und Bürgersteige und Fenstersimse und Treppenstufen. Ich bummelte, völlig verzaubert von der weißen Kulisse. Der erste Schnee des Winters ist ein bisschen wie Magie. Als wäre ein Märchen Wirklichkeit geworden. Eigentlich war ich ja viel zu alt, um deswegen derart in Aufregung zu geraten. Darin zu tanzen wie ein kleines Mädchen. Aber ich konnte nicht anders. Ich war aufgeregt.
    Und es war falsch, so durch und durch falsch, dass ich allein loszog und mich so unbekümmert über die Regeln des Ordens hinwegsetzte. Doch das hatte ich früher schon oft getan, sodass die Schwestern inzwischen bereits damit rechneten. Regeln missfielen mir. Vermutlich musste ich meine rebellische Art ein wenig ablegen und mich anpassen, wenn ich das Gelübde abgelegt hatte, aber bis dahin schien mir das nicht nötig. Und danach …
    Wieder dieser Hauch von Zweifel. Und wieder schüttelte ich ihn ab. Ich würde später darüber nachdenken. Nicht jetzt. Im Augenblick wollte ich nur allein durch die Nacht gehen, bei jedem Schritt die Regeln brechen und die winterliche Zauberlandschaft genießen.
    Und genau das machte ich. Als ich endlich zur Bushaltestelle an der Ecke kam, sah ich mein Transportmittel gerade noch ohne mich davonfahren.
    Das brachte mich aus der Fassung, aber nur für einen Moment. Schließlich war ich schon so fast eine Nonne. Und ich war gut. Ich hatte mein Leben in den Dienst Gottes gestellt, und ganz sicher nahm niemand seine Aufgabe ernster als ich. Gewiss konnte ich mir, wo immer ich auch hinging, der Gnade Seines Schutzes sicher sein. Ich glaube, ich fühlte mich unverwundbar. Bei den Schwestern hatte ich das sicher nicht gelernt, und durch meine Studien auch nicht. Dennoch kam es mir so vor. Mir schien, als wäre ich von einem Schutzschild umgeben, in dem mir kein Leid zustoßen konnte, daher fasste ich den törichten Entschluss, die sechs Häuserblocks bis zum Obdachlosenasyl zu Fuß zu gehen. Und das, so wurde mir später klar, war der hochmütige Stolz, der zu meinem Untergang führte.
    Er wartete. Lauerte im Schatten einer Gasse voller Müll. Das Monster rief nach mir, als ich vorüberging; ich blieb widerwillig stehen. Was war ich doch für eine Närrin.
    „Schwester! Schwester, bitte helfen Sie mir.“
    Der Schnee fiel in dichten Flocken, als ich in die Dunkelheit blickte. Den Mann mit der flehenden Stimme konnte ich jedoch nirgends entdecken. Ich richtete mich etwas auf und verspürte zum ersten Mal einen Anflug von Furcht. „Wer ist da?“, rief ich. „Kommen Sie her, wo ich Sie sehen kann.“
    „Ich kann nicht. Ich bin verletzt. Bitte, Schwester. Lassen Sie mich nicht hier in der Kälte sterben. Helfen Sie mir!“
    Die Furcht wollte aus meinen Gedanken nicht weichen, doch meine unerschütterliche Selbstsicherheit erwies sich als stärker. Ich war eine Dienerin des Herrn und würde mich an Orte wagen, wo es selbst Seinen treuesten Engeln grauste, sollte es

Weitere Kostenlose Bücher