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Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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und flüsterte: „Trink, Angelica, trink … und lebe.“
    Mit der Hand in meinem Nacken drückte er mich näher an sich. Und ich berührte mit den Lippen die warme Nässe an seinem Hals. Ich wollte mich abwenden, aber ich war zu schwach. Der Geschmack benetzte meine Zunge, meine Sinne rasten. Ein Kick, einem eisigen Wind gleich, jagte durch mich hindurch. Ich glaube, ich riss die Augen weit auf. Ich öffnete keuchend die Lippen, und da strömte noch mehr der dicklichen, salzigen Flüssigkeit in meinen Mund. Ich hätte es nicht tun sollen. Wäre ich so strenggläubig gewesen, wie ich mir einbildete, hätte ich es nicht getan. Ich hätte bereitwillig zu unserem Herrn heimgehen sollen, statt mich an den instinktiven Überlebenswillen zu klammern. Stattdessen schluckte ich. Und da spürte ich erstmals die Macht dieses teuflischen Hungers. Sie strömte durch mich hindurch und überwältigte mein einstiges Wesen. Sie übernahm die Herrschaft über mich, ein Bedürfnis, das ganz unbeschreiblich mächtig ist. Ich heftete die Lippen an die Wunde an seinem Hals … und trank. Hungrig, gierig trank ich, und mein Körper erlebte Empfindungen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. So gefräßig wurde ich, dass er mich wegstoßen musste, als der Fluch erfüllt war. Mich, sein unwilliges Opfer, musste er von seinem Hals wegstoßen.
    Und da lag ich im Abfall. Mein Blick klärte sich. Ich konnte sehen. Ich sah alles. Jede Winzigkeit seines weißen Gesichts, die schwarzen Augen, die blutigen Lippen. Jedes Sandkörnchen in den Mauersteinen des angrenzenden Hauses. Jeden Stern am Himmel. Neues Leben, neue Empfindungen brachten meine Haut zum Kribbeln. Ich fühlte auf eine mir völlig unbekannte Weise. Die Form jeder Schneeflocke, die auf meiner Haut landete. Jedes Molekül der kalten Luft, die mein Gesicht liebkoste. Jedes Steinchen und jedes Stück Abfall unter mir. Ich konnte jeden widerlichen Geruch identifizieren. Und mein Gehör … ich hörte die Gespräche von Leuten, die auf der Straße vorbeikamen. Reifen auf dem nassen Asphalt. Das vom Schnee gedämpfte Quietschen von Bremsen.
    Ich hörte, wie die Ampel auf Grün umschaltete.
    „Was ist das?“, schrie ich, und sogar meine Stimme hörte sich erschreckend anders an, so voll und klar, dass ich die Hände auf die Ohren presste und die Augen ganz fest zukniff.
    „Du wirst lernen, das alles zu kontrollieren“, erklärte er mir. „Du kannst es ausblenden, nur hören, was du hören willst. Ich bringe es dir bei.“ Er nahm mir die Hände von den Ohren und drückte sie in den Unrat um mich herum. „Ich bringe es dir bei. Du wirst ewig leben, Angelica. Du bist keine Sterbliche mehr. Du bist jetzt wie ich.“
    „Wie Sie?“ Entsetzen überkam mich.
    „Ja.“
    Mein Herz schien zu rasen, als mir klar wurde, was er getan, was ich zugelassen hatte. „Ich bin verflucht“, flüsterte ich.
    „Komm. Deine erste Lektion wartet.“ Er zog mich auf die Füße und zerrte mich zum Anfang der Gasse, trotz meiner Gegenwehr. Meine Tracht zerriss, als er mich packte. „Stark“, flüsterte er. „Schon jetzt bist du so stark. Und du wirst noch stärker, Angelica, wenn wir uns gelabt haben.“ Er blieb stehen und ließ den Blick seiner seltsamen schwarzen Augen über die Passanten schweifen.
    „Gelabt?“, wisperte ich entsetzt.
    „Ja“, sagte er und lächelte. Ich sah sein Gebiss, dann die Fangzähne, spitz und glänzend wie Nadeln. „An ihnen.“ Er nickte zu den Leuten, die vorübergingen.
    Grauen erfüllte mich. Er war ein Monster! Ein Dämon. Ein … ein Vampir . Ich erschauerte, als ich die Bedeutung des Wortes begriff. Aus mir hatte er eine Kreatur gemacht, wie er eine war. Und ich hatte es zugelassen … ich …
    Er nahm mich trotz meiner Proteste in die Arme und führte mich in die Gasse zurück. Dann packte er mich auf seine Schultern und kletterte die Fassade des Gebäudes hinauf. Wie eine Spinne, immer weiter hinauf, und ich wehrte mich nicht mehr, aus Angst, zu fallen. Höher und höher ging es, oben wehte der Wind kräftiger. Die zuvor mich zart liebkosenden Schneeflocken wurden zu winzigen Pfeilen, die der Engel des Herrn herunterschleuderte, um mich zu bestrafen. Sie schnitten mir ins Gesicht. Und dennoch zitterte ich nicht oder erschauerte wegen der Kälte. Ich spürte sie nur viel intensiver als jemals zuvor.
    Er kletterte auf das Dach und bewegte sich wie eine Katze über die Dachlandschaft, sprang von einem Dach zum nächsten. Sicher habe ich in diesen Augenblicken

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