Erinnerungen der Nacht
stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Nach einem nervösen Blick in den Rückspiegel steuerte sie das Auto von der Straße und beugte sich über ihn, während er auf dem Beifahrersitz lag und sich mit jedem bisschen Kraft, das er noch besaß, darauf konzentrierte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ein- oder zweimal war er schon weg gewesen. Und er fürchtete, wenn es noch einmal passierte, würde er nicht wieder aufwachen.
„Du wirst immer besser“, brachte er heraus. „Beim Gedankenlesen, meine ich.“
„Du bist zu schwach, es zu verhindern.“ Sie riss sein Hemd auf, und er erinnerte sich, wie er davon geträumt hatte, dass sie etwas ganz Ähnliches tun würde. Nur unter ganz anderen Umständen.
Sie atmete tief ein. Die Wunde stellte ein unebenmäßiges Loch an seiner Seite dar, drei oder vier Zentimeter über dem Hüftknochen, aus dem Blut in erschreckenden Mengen quoll. Eine Fleischwunde, die für einen Sterblichen kaum lebensgefährlich gewesen wäre.
„Warum blutet es so?“, flüsterte Angelica. „Sieht doch gar nicht so schlimm aus. Warum hört es nicht auf zu bluten?“ Derweil durchsuchte sie das Auto, sah ins Handschuhfach, beugte sich über die Sitzlehne.
„Jede Wunde kann einen Vampir töten“, ließ er sie wissen. Ihr Lehrer, das war er geworden. Irgendwie älter und weiser, den sie zum Überleben brauchte. Auch deshalb machte sie sich gerade so große Sorgen um ihn. Er sollte sich bloß keine Schwachheiten genehmigen. „Uns ergeht es wie Blutern, wenn wir tiefe Fleischwunden zugefügt bekommen. Ich fürchte, süße Angel, ich bin in wenigen Minuten tot, wenn wir die Blutung nicht stillen können.“
Offenbar war Angelica schon zur selben Schlussfolgerung gelangt. Denn er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da zerrte sie ihm das Hemd vom Leib und zerriss den Stoff dabei. Mit den Zähnen riss sie einen Ärmel ab, knüllte ihn zusammen, drückte ihn auf die Verletzung. Den Rest des Hemdes drehte sie zu einem langen Band und wickelte es so fest um seine Leibesmitte, dass er kaum noch Luft bekam. Sie zog es fest, um zusätzlichen Druck auf die Wunde auszuüben, und er stöhnte. Schmerzen. Sie verursachte ihm ungeheure Schmerzen, das wusste sie. Und spürte sie ebenfalls, eine Anomalie, hinter die Jameson immer noch nicht gekommen war. Vielleicht wusste Roland eine Erklärung.
Was die Schmerzen anbetraf, dagegen konnte man nichts machen. Allerdings hatte er angenommen, dass sie etwas zimperlicher sein würde. Doch das war sie nicht. Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, und das war wahrscheinlich gut so. Sie war seine einzige Chance. Als sie fertig war, wartete sie und betrachtete den improvisierten Druckverband.
„Nicht bluten“, murmelte sie halb zu sich und halb zu der Wunde an seiner Seite. „Nicht bluten, nicht bluten, nicht bluten …“
„Das wagt sie nicht“, sagte er. Dann lehnte er sich auf dem Sitz zurück und machte die Augen zu.
„Verlass mich nicht“, bat sie ihn.
Sie ließ den Motor wieder an und beobachtete noch eine Weile den Verband. In die Augen schaute sie ihm nicht mehr. Dann ließ sie die Kupplung kommen und raste so schnell, wie der Sportflitzer es zuließ, zu Erics Haus zurück. Dort angekommen, legte sie den Arm um ihn und versuchte, ihn aus dem Wagen zu ziehen. Jameson schwang sogar die Füße hinaus und stellte sie auf den Boden, um ihr zu helfen. Zweifellos hätte sie ihn, falls erforderlich, auch tragen können. Sie war im Besitz solcher Kräfte, aber wusste sie es auch? Allerdings war er noch nicht so lange ein Vampir, sodass ihm die ganze Situation unangenehm war. Er wollte sich nicht von einer Frau tragen lassen, und so schaffte er es tatsächlich, allein ins Haus zu gehen. Sie führte ihn durch den Korridor, dann ins Innere und aktivierte die Schlösser, als sie die Türen geschlossen hatte.
„Herrgott, Angel“, sagte er, blieb stehen und atmete ein paarmal flach, ehe er weiterging. „Das war dumm.“ Sie führte ihn ins Schlafzimmer und legte ihn behutsam auf das Bett.
„Was denn?“
„Die Schlösser. Du kennst den Code nicht. Wie willst du wieder rauskommen, wenn ich sterbe?“
„Dann musst du eben am Leben bleiben, Vampir. Wenn nicht, sitze ich hier fest. Also reiß dich zusammen und sag mir, was ich tun soll.“ Und dann, als die nächste Ohnmacht drohte, beugte sie sich über ihn und schüttelte ihn an den Schultern. „Verdammt, Jameson, was soll ich tun?“ Er sah Tränen in ihren Augen.
Er konnte sie einfach
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