Erinnerungen der Nacht
nicht hassen. Diese Frau brauchte ihn. Frauen in Not waren immer seine Schwäche gewesen. Zuerst Tamara. Er erinnerte sich, wie er sich einmal als magerer Zwölfjähriger auf eine Schlägerei mit bloßen Fäusten einlassen wollte, als ein erwachsener Mann sie belästigte. Selbst Rhiannon, die stärkste Frau, die er je kennengelernt hatte, besaß ihre schwachen Momente, und Jameson hätte es mit der ganzen Welt aufgenommen, um sie zu beschützen.
Und jetzt Angelica. Der dunkle Engel, der ihn mehr zu brauchen schien als alle anderen zusammengenommen. Er wollte keine Beschützerinstinkte für sie entwickeln, doch es schien unvermeidlich zu sein. Er spürte es. Und konnte nichts dagegen tun. Obwohl er hier an der Schwelle des Todes lag, spürte er ihre Angst. Er würde nicht sterben und sie ihrem Schicksal überlassen. Er würde kämpfen, damit er am Leben blieb. Er wollte bei ihr sein, wenn sie ihre Tochter fanden. Er wollte die Freude in diesen glänzenden Augen sehen.
Verdammt, er fing an, diese Frau zu mögen.
Er strich ihr das Haar aus dem wunderschönen Gesicht. „Jede Wunde heilt während des Tagesschlafs. Du musst mich nur bis dahin am Leben halten.“
„Wie soll ich das machen?“
Er versuchte zu lächeln. „Die Blutung stillen. Ersetzen, was ich verloren habe. Wenn du das schaffst, geht es mir gut.“ Er bemühte sich, die Augen offen zu halten.
Sie blinzelte. „Und wenn ich das nicht kann?“
„Sieh im Bad nach, Angel. Dort müssten Vorräte sein für … diese Art von Notfall.“
Sie berührte sein Gesicht, sah nach der Wunde, presste die Lippen aufeinander und ging ins Bad, um nach den Vorräten zu suchen. Jameson zweifelte nicht, dass sie dort finden würde, was sie brauchte. Eric hortete einfach alles, damit es im Notfall an nichts fehlte. Angelica kehrte mit verschiedenen Verbänden und sogar Nadel und Faden zurück. Die Verbände mussten genügen. Auf keinen Fall würde er still liegen bleiben und zusehen, wie sie diese Nadel in ihn bohrte. Außerdem war dafür sowieso keine Zeit mehr. Die Dämmerung rückte unaufhaltsam heran.
Angelica trat an sein Bett, entfernte den provisorischen Druckverband und sah erschrocken, dass es schon wieder zu bluten begann. Eine Hand drückte sie auf die Wunde, mit der anderen und den Zähnen riss sie Streifen des Verbands ab. Dann drückte sie die unebenmäßigen Ränder der Wunde zusammen. So schloss sie die Öffnung Stück für Stück. Als sie fertig war und das Blut immer noch floss, machte sie einen sauberen, neuen Verband aus einem Stück Mull und knotete die Binde fest darüber. Dann seufzte sie erleichtert und nickte. Sie schien zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Arbeit.
Während er dalag und sich überlegte, dass vielleicht doch noch alles gut werden würde, nahm die Frau plötzlich Nadel und etwas Seidenfaden zur Hand.
„Nein“, sagte er rau flüsternd. „Das ist nicht nötig.“
„Dachte ich zuerst auch“, erwiderte sie und fädelte den Faden zielsicher in das Nadelöhr ein. „Aber jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe. Wenn du auch nur eine Bewegung machst, fängt es wieder an zu bluten. Du könntest sterben, Vampir.“ Sie hatte den Faden eingefädelt und lockerte den Verband wieder. „Mach dich bereit“, forderte sie ihn auf. „Das dürfte tierisch schmerzen.“
Als ich die klaffende Wunde an seiner Seite nähte, wurde er vor Schmerzen ohnmächtig. Der Blutverlust tat sein Übriges. Mir war nicht klar gewesen, dass alle Vampire Schmerzen anders fühlten. Seit der Verwandlung verspürte ich Schmerzen viel intensiver. Jetzt wusste ich, dass das zu meinem neuen Dasein gehörte. Die Schmerzen wurden ebenso verstärkt wie jede andere Empfindung. Und nun spürte ich auch seine Schmerzen, warum nur? Die Schmerzen der anderen Vampire, die in den Zellen neben meiner gefangen gehalten wurden, hatte ich nicht spüren können. Auch nicht die meines Erzeugers, als ich ihn angezündet und verbrannt hatte. Aber Jamesons Schmerzen teilte ich.
Genau genommen war es jedoch ganz schlüssig. Der Mann war in meinem Blut, in meiner Seele. Wie ein Virus, den ich nicht auskurieren konnte. Der langsam stärker wurde und sich in meinem ganzen Körper ausbreitete, bis er jeden Gedanken und jede Empfindung beeinflusste.
Während der kurzen Zeit unseres Beisammenseins verspürte ich eine enorme Verbundenheit mit ihm. Begonnen hatte alles mit den körperlichen Empfindungen, als ich mich an ihm gütlich tat. Und dann das Verlangen. Die Sehnsucht nach mehr.
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