Erinnerungen der Nacht
einfach liegen gelassen, sondern obendrein einen ihrer Art getötet. Doch das würde ich nicht bestreiten. „Er hat einen unschuldigen Mann vor meinen Augen getötet“, sagte ich. „Und dann wollte er mich zwingen, dasselbe mit einem Knaben zu machen. Einem ängstlichen Jungen. Und ich konnte es nicht. Also habe ich …“ Ich machte die Augen zu und schluckte, weil ich fast an dem Kloß in meinem Hals erstickte.
Rhiannon kam näher und fixierte mich. „Du hast ihn getötet, richtig?“
Ich betrachtete meine Hände im Schoß und nickte knapp. Ich konnte sie nicht ansehen. Die beiden Frauen schwiegen; als ich endlich wagte hochzublicken, verzog Rhiannon die Lippen zu einem rätselhaften Mona-Lisa-Lächeln.
„Ach je“, sagte sie. „Du scheinst aus einem härteren Holz geschnitzt zu sein, als es auf den ersten Blick scheint.“
„Er bekam, was er verdiente“, sagte Tamara leise. „Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Angelica. Es ist keine Sünde, wenn man in Notwehr tötet.“
„Ich habe nicht in Notwehr gehandelt, als ich Jameson fast umgebracht hätte, oder?“ Ich wandte mich ab und entfernte mich niedergeschlagen und kläglich von den beiden. Sie wirkten so gütig, so selbstsicher. Anmutig und weise und irgendwie im Reinen mit sich und ihrem Dasein. Warum kann ich nicht wie sie sein?, fragte ich mich.
„Na ja“, sagte Rhiannon, „auch da könnte etwas mehr im Spiel sein.“
„Ja“, bestätigte ich. „Ich hatte Hunger. Ein egoistischer Grund, jemandem wehzutun.“
„Irgendwie bezweifle ich, dass du ihm sehr wehgetan hast.“ Rhiannon sah Tamara in die Augen, ihre schienen zu funkeln. „Blut von einem Lebenden zu nehmen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme, Liebes. Wie du in jener Nacht sicher erfahren hast. Es hat etwas ausgeprägt Sexuelles. Jedenfalls dann, wenn schon vorher eine gewisse Sympathie besteht.“
Ich errötete.
„Das muss dir nicht peinlich sein“, sagte Tamara. „Man muss sich erst daran gewöhnen, Angelica. Das alles muss ziemlich schwer für dich gewesen sein. Aber glaub mir, wenn du noch … Gefühle für Jameson hast, ist das ganz normal. Wenn man von einem Mann trinkt, dann wird die vorhandene Zuneigung irgendwie … na ja, verstärkt.“
„Von wegen verstärkt, sie explodiert“, fügte Rhiannon hinzu. „Aber es tröstet dich vielleicht, dass es ihm nicht anders ergeht.“ Sie lächelte jetzt unverhohlener. „Und so, wie er sich mir entgegengestellt hat, um dich zu beschützen, Kleines, nehme ich an, dass ihr inzwischen mehr als nur Blut gewechselt habt.“
„Bitte, ich ertrage es nicht mehr, darüber zu reden!“ Ich drehte ihnen beiden den Rücken zu und verbarg das Gesicht in den Händen.
„ Rhiannon “, schimpfte Tamara. „Siehst du denn nicht, dass ihr das alles eine Todesangst macht? Sie war eine Nonne, Herrgott. Die leben im Zölibat.“
„Dann, kann ich nur sagen, ist sie ja um Haaresbreite davongekommen. Sie ist offensichtlich nicht geschaffen für die … Keuschheit.“ Sie verzog das Gesicht beim letzten Wort. „Je schneller sie das überwindet, desto besser. Es ist die Reaktion einer Sterblichen! Wir aber sind Vampire , Kleines. Wir fühlen, wie keine anderen Geschöpfe fühlen können. Das ist der beste Teil unseres Daseins, begreifst du das nicht? Ein Geschenk. Eigentlich ein Segen.“
Ich fuhr zu ihr herum, da mich eine solche Ketzerei mit Entsetzen erfüllte. „Wie kannst du über Segen und Gaben reden? Ist dir nicht klar, dass du verflucht bist? Wie wir alle!“
Rhiannon sah mir direkt in die Augen und blinzelte überrascht. „Erstens, Kleines – und das solltest du dir für alle Zeiten in deinem rechtschaffenen kleinen Hirn speichern –, schrei mich niemals an. Niemals. Ich bin älter als zehn deiner Lebensspannen. Ich bin Rhiannon aus Ägypten …“
„Jetzt geht’s los“, murmelte Tamara.
„Tochter des Pharao, Prinzessin des Nils“, fuhr Rhiannon fort. „Von Männern angebetet. Eine Göttin unter den Frauen. Von allen beneidet …“
„Das reicht, Rhiannon. Sie hat verstanden. Könntest du bitte zu Punkt Nummer zwei kommen, ja?“
Rhiannon warf Tamara einen bösen und zugleich schelmischen Blick zu. „Ich wollte nur sicherstellen, dass sie alle Fakten kennt“, sagte sie und wandte sich wieder an mich. „Zweitens, was bildest du dir ein, zu bestimmen, wer verflucht ist? Kennst du etwa die Gedanken des Allmächtigen? Woher weißt du, dass nicht Er uns geschaffen hat? Würde ein barmherziger Gott jemanden nur
Weitere Kostenlose Bücher