Erinnerungen der Nacht
sah gar nichts, bemühte sich jedoch, sie im Blick zu behalten, und blinzelte dabei wie ein Maulwurf.
„Setz dich mit überkreuzten Beinen auf den Boden.“
Er befolgte ihre Anweisung. Rhiannon ging um den Kreis der Kerzen herum und setzte sich ihm gegenüber. Zaghaft erforschte sie seinen Geist, doch er schirmte ihn vollkommen vor ihr ab.
„Konzentrier dich, Lucien. Nichts darf dich erfüllen außer den Kerzen. Konzentrier dich auf ihre Dochte. Denk an nichts anderes. Stell dir Flammen vor, die auf dein Geheiß hin auflodern. Jetzt gleich.“
Sie sah, wie er gebannt auf die Kerze direkt vor sich starrte. Als sie den Strahl ihrer Gedanken dorthin richtete, loderte einen Moment später mit leisem Plop ein Flämmchen empor.
Lucien zuckte zusammen, als wäre er heftig geschlagen worden.
„Sehr gut“, schnurrte Rhiannon. „Für einen Menschen hast du einen starken Geist.“ Wieder suchte sie nach seinen Gedanken und fand nichts. „Aber du konzentrierst dich nicht genug. Streng deinen Verstand an.“
Er gehorchte. Er starrte eine weitere Kerze an, doch sie ließ ihn eine ganze Weile schmoren, ehe sie sie anzündete. So entflammte Rhiannon nach und nach alle Kerzen, während Luciens Wachsamkeit langsam nachließ.
Seine Augen waren groß vor Staunen, und das weiche Licht der Kerzen erhellte sein Gesicht. „Jetzt den Weihrauch. Das ist ein wenig schwieriger. Konzentrier dich.“
Sie beobachtete, wie er die silberne Schale anstarrte, entzündete die Kräuter aber nicht. Stattdessen durchforstete sie seine Gedanken und suchte in den nebulösen Tiefen nach Hinweisen auf Jamey.
Einen Moment sah sie den Jungen mit einer Wolldecke zugedeckt auf einer Holzpritsche liegen. Doch das Bild verschwand, als Lucien sie ansah.
„Es funktioniert nicht.“
„Du konzentrierst dich nicht genug. Versuch es noch mal.“
Er gehorchte. Es war lächerlich, wie er vor Anstrengung das Gesicht verzog. Der Narr knirschte sogar mit den Zähnen. Wieder suchte Rhiannon in seinem Geist, und diesmal sah sie ein wenig mehr. Einen stockdunklen Raum. Ein vernageltes Fenster. Staubige Spinnweben in den Ecken.
Sie betrachtete den Weihrauch, der zu schwelen begann. Sie drang ein wenig tiefer in seinen Geist vor und versuchte den Ort zu finden, wo sich Jameys Gefängnis befand. Er war nahe. Ganz nahe, aber nicht in dieser Hütte. Ah, da. Noch eine Hütte, dieser nicht unähnlich, aber vollkommen verfallen. Auf dem Berg?, fragte sie sich. Nein. Darunter, aber nicht im Dorf.
Plötzlich schob sich eine Mauer vor seinen Verstand. „Du willst mich austricksen, nicht?“
Er wusste, dass sie spioniert hatte. Sie hielt seinem vorwurfsvollen Blick stand. „Unsere Gedanken müssen sich ebenso vermischen wie unser Blut, Lucien. Das klappt nicht, wenn du nicht kooperierst.“
Füge dich, sang sie stumm. Mein Wille wird deiner, Lucien.
Sie sah, wie seine Augen trüb wurden.
„Du musst dich entspannen. Tief durchatmen. Genau so.“ Sie führte es ihm vor, er ahmte sie mehrere Augenblicke nach. Seine Lider sanken ein wenig herunter. Fast hätte sie triumphierend gelächelt.
„Viel besser. Und jetzt konzentrier dich auf nichts. Versuche deinen Geist vom Körper zu lösen, bis du glaubst, dass du schwebst.“
Die Lider sanken etwas tiefer. Er atmete jetzt aus freien Stücken tief und regelmäßig, sie musste es ihm nicht mehr vormachen.
„Stell dir vor, dass du ein Geist bist, wenn du willst. Spüre, wie die Ketten deines Körpers von dir abfallen.“
Dein Wille ist meiner, Lucien. Du hast keinen anderen Wunsch, als mir zu gehorchen. Du kennst nur die Gedanken, die ich dir übermittle. Ergib dich mir, Lucien. Kapituliere.
Langsam fielen ihm die Augen zu. Sein Atem wurde noch regelmäßiger und kam in langen, gleichmäßigen Zügen. Der Kopf hing ihm an einem erschlafften Hals auf die Brust.
Wo ist der Junge?
Roland konzentrierte sich mit jeder Faser auf Rhiannon. Er wartete so lange, wie er es ertragen konnte, dann näherte er sich dem winzigen Bauwerk. Er wollte weitergehen, bis er ein Fenster gefunden hatte, durch das er sehen konnte, was passierte. Sie konzentrierte sich so ausschließlich auf Lucien, dass er ihre Gedanken nicht orten konnte und mithin auch keine Ahnung hatte, was sich da drinnen abspielte.
Roland verließ sein Versteck hinter den Felsen und konzentrierte sich voll und ganz auf Rhiannon. Der Schuss kam aus dem Dunkel. Etwas bohrte sich in seine Brust.
Er hob die Hand und umklammerte den Gegenstand, der ihm brennende
Weitere Kostenlose Bücher