Erinnerungen der Nacht
Tempo würde er es nicht vor Mittag bis zu der Hütte schaffen. Trotzdem musste er es weiterversuchen.
Er schleppte sich in den Schatten der Felsen. Halb auf die ebene Lichtung, ohne Schutz vor der aufgehenden Sonne. Halb bis zur Hütte. Abermals krallte er sich fest und zog sich voran, während er nach Osten blickte, wo er den fahlen orangeroten Schein sehen konnte, der gerade den Rand des Firmaments einfärbte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und liefen ihm brennend in die Augen. Er klammerte sich erneut am Boden fest und grunzte vor Anstrengung.
Aus der entgegengesetzten Richtung hörte er ein tapsendes Geräusch, das immer näher kam. Er drehte den Kopf und ließ alle Luft aus seinen Lungen entweichen. Links von ihm die Sonne. Und jetzt rechts von ihm ein Wolf, so groß wie ein Bernhardiner, aber mit Muskeln, die sich unter dem seidigen Fell abzeichneten, kein Fett. Wenn ihn die Sonne nicht tötete, dann ganz gewiss dieses Tier. Er hatte keine Kraft mehr, gegen einen davon anzukämpfen.
Roland, der sich an seine letzte Begegnung mit einem Wolf erinnerte, wünschte sich, die Sonne würde sich sputen. Dann stand die Bestie über ihm, und er wusste, es war zu spät.
Doch was war das? Kein Knurren gab der Wolf von sich, und die Zähne bleckte er auch nicht. Stattdessen blieb er vor Roland stehen, senkte den enormen Kopf und schob die Schnauze unter Rolands so gut wie nutzlosen Arm.
Roland konnte nur staunend und fassungslos zusehen, wie der Wolf seinen Körper vorwärtsschob. Er hörte erst auf, als Rolands Schultern vom kräftigen Rücken des Tieres gestützt wurden. Roland hatte keine Ahnung, was hier geschah oder warum. War das ein Traum, den er in den Zuckungen des Todes träumte? Er bemühte sich nach Kräften, den anderen Arm um den Hals des Tieres zu legen, bis er die Hände ineinander verschränken konnte. Kaum hatte er das geschafft, setzte sich der Wolf in Bewegung und musste sich trotz Rolands Körpergewicht nicht einmal anstrengen. Rolands Oberkörper wurde getragen, der Rest mitgeschleift. Doch der Wolf zog ihn in die falsche Richtung.
Er hätte vor Frustration schreien können. Hätte er den Wolf doch nur dazu bringen können, dass er ihn in die Hütte zog, wie Rhiannon Pandora Befehle gab. Er versuchte es, doch der Wolf wollte nicht hören. Er hob mühsam den Kopf, damit er nach vorn sehen konnte, strich dabei mit der Wange am dichten, weichen Fell des Wolfs entlang und atmete den Duft des Tieres ein. Er traute seinen Augen kaum. Der Wolf hatte ihn zu einer kleinen Höhle in der Seite der steilen Felswand geschleppt. Durch den Überhang aus Felsgestein und die Findlinge an den Seiten konnte man sie kaum erkennen. Er selbst hätte nie etwas von der Existenz dieser Höhle geahnt.
Das Tier zerrte ihn hinein, dann über den kalten unebenen Boden um eine Biegung herum bis in den hinteren Teil. Roland vermutete, dass die Sonne nie und nimmer bis hierher scheinen würde. Er ließ den Hals des prachtvollen Wolfs los und sank zu Boden.
Der Wolf stand über ihm und sah ihm einen Moment in die Augen. Seine Augen waren von einer Weisheit beseelt, die dort eigentlich nicht sein sollte.
„Ich weiß nicht, was du bist, Wolf …“ Die Erinnerung an Rhiannons Geschichten über Altvordere, die ihre Gestalt verändern konnten, über Damien, strömte in ihn ein. „Aber ich danke dir“, brachte Roland heraus. Seine Augen waren schwer, er konnte die Worte kaum aussprechen. „Schwacher Lohn dafür, dass du mir … das Leben gerettet hast. Ich weiß.“
Er rechnete damit, dass das Tier kehrtmachen und verschwinden würde. Stattdessen ließ es sich wenige Schritte von ihm entfernt auf den Felsboden sinken und schloss die Augen. Wenige Sekunden später folgte Roland seinem Beispiel. Sein letzter Gedanke galt Rhiannon. Wo war sie jetzt, da die grausame Sonne am Himmel stand? War sie in Sicherheit? Vor den verheerenden Strahlen geschützt?
Als Roland wieder erwachte, war er allein. Er betrachtete die Felswände ringsum und fragte sich, ob er die Begebenheit mit dem Wolf nur geträumt hatte.
Es war wieder Nacht. Er fühlte sich stark, lief aus der Höhle und hatte nur einen Gedanken im Kopf: Rhiannon. Er musste sie augenblicklich finden, noch ehe eine weitere Minute verging.
Er näherte sich der Hütte. Dort wollte er mit der Suche nach Hinweisen beginnen.
„Roland!“
Er blieb wie angewurzelt stehen, als er den Ruf hörte, wusste jedoch schon im nächsten Moment, dass es Eric war. Er wandte sich zu
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