Erinnerungen der Nacht
sich nicht leisten, dass die Sorge um den Jungen oder die extreme Traurigkeit wegen dem Abschied, der nach dieser Prüfung folgen würde, sie ablenkte. Sie musste sich einzig und allein auf Lucien konzentrieren.
Doch bevor sie so weit war, ging auch schon die Tür auf und das Objekt ihrer Gedanken stand vor ihr. „Tritt ein, Rhiannon. Ich gehe davon aus, du hast Wort gehalten und bist allein gekommen?“ Er ließ den Blick über die Umgebung draußen schweifen, während er das sagte, und sie wusste, dass er auch mit dem Geist suchte. Rolands Anwesenheit würde er damit nicht entdecken. Der konnte seine Gedanken mühelos vor diesem Mann verbergen. Sein Geist mochte noch so mächtig sein, aber letztendlich war Lucien doch nur ein Mensch.
„Natürlich. Hast du gedacht, ich würde das Leben des Jungen gefährden oder mich so vor dir fürchten, dass ich Verstärkung mitbringen muss?“ Er richtete den Blick wieder auf sie, und seine Miene veränderte sich, als er ihre Kleidung sah. „Sei nicht albern, Lucien. Ich fürchte keinen Sterblichen.“
Er ging zur Seite, als sie die Hütte betrat. Sie machte große Schritte und ging erhobenen Hauptes. Er sollte kein Anzeichen von Schwäche erkennen.
„Ach nein? Nicht einmal Curtis Rogers?“
Sollte diese Bemerkung sie erschüttern? „Ihn am allerwenigsten. Er ist ein Schwächling, den sein Wunsch nach Rache blind macht. Ich könnte ihn so mühelos töten, wie du eine Fliege zerquetschen würdest. Aber darum geht es jetzt nicht, oder?“
Lucien zuckte mit den Schultern und machte die Tür zu. Rhiannon konzentrierte sich im Geiste ganz auf die Hütte, in der sich offenkundig außer ihnen beiden niemand aufhielt. Sie ging zum Kamin und ließ sich vom Feuer wärmen.
„Du bist ganz anders angezogen als gestern Nacht. Hat das etwas zu bedeuten?“
Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. „Ich dachte, du wüsstest alles über mich? Kann es sein, dass deine Recherchen doch nicht ganz so lückenlos sind? Kennst du das Gewand einer ägyptischen Priesterin nicht?“
Er sagte nichts, sondern betrachtete sie nur von Kopf bis Fuß. „Darf ich dir wenigstens den Mantel abnehmen?“
„Das darfst du nicht.“
„Wie du willst.“
Sie betrachtete sein Gesicht. Seine Lider wirkten etwas aufgedunsen. Sie sah dunkle Ringe unter den Augen. „Hast du meine Anweisungen befolgt?“
„Habe ich. Kein Schlaf, nichts zu essen, nichts zu trinken. Um ehrlich zu sein, bin ich momentan durstiger als eine Sanddüne.“
„Das geht vorüber“, versicherte sie ihm. „Wie geht es dem Jungen?“
„Bestens. Er ist in Sicherheit, jedenfalls vorerst. Ich zweifle nicht daran, dass deine Freunde bereits nach ihm suchen.“
Sie zog nur die Brauen hoch. „Denk, was du willst.“
„Ist auch egal. Sie werden ihn nicht finden.“ Er ging durch den Raum zu einer geschlossenen Tür und öffnete sie. Dann trat er beiseite und winkte ihr, dass sie eintreten sollte.
Rhiannon setzte sich in Bewegung; ihr Mantel wallte bei jedem Schritt, der Kimono glitt über den Boden. Unter der Tür blieb sie stehen und sah einen kleinen Raum, möglicherweise ein Schlafzimmer, aber ohne Möbel, abgesehen von einem Tisch und einer brennenden Petroleumlampe.
„Fangen wir an.“ Lucien stand dicht hinter ihr und hauchte ihr seinen kalten Atem in den Nacken.
Sie trat ein, er folgte ihr. Aus einer Innentasche des Mantels holte sie ein kleines Säckchen. Lucien verfolgte jede ihrer Bewegungen.
„Was ist das?“
Sie zog die Kordel auf und holte mehrere Kerzen, ein Päckchen Weihrauch und eine silberne Schale heraus, die sie in einem kleinen Kreis auf dem Boden aufstellte. „Nichts, wovor man Angst haben müsste, Lucien. Siehst du?“
Er kniete nieder, hob eine Kerze hoch, betrachtete sie eingehend, roch daran. Danach nahm er das Kräutersäckchen, untersuchte auch das und schüttete sich ein wenig auf die Handfläche.
„Weihrauch“, sagte sie. „Für die Schale in der Mitte des Kreises aus Kerzen.“
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu, schüttete den Weihrauch aber wie geheißen in die Schale. „Soll ich sie anzünden?“
Er war nervös. Sie sah es daran, wie er sich ständig die Lippen leckte und unablässig den Blick schweifen ließ. „Nein. Darum kümmern wir uns gleich. Lösch bitte das Licht.“
Er runzelte die Stirn, stand aber auf. Er hielt die Hand über die Rückseite des Glases und pustete in die Lampe. Es wurde unmittelbar stockdunkel in dem Zimmer. Sie konnte ihn deutlich sehen. Er
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