Erknntnisse eines etablierten Herrn
für ihr Gehopse und Gezucke eigentlich zu alt — gewohnte Peinlichkeit in jugendbesessener Zeit. Aber der Rahmen stimmt nicht. Weder Juxdekoration noch bürgerlich-frivoler Schummer, kein Samt, keine bunten Scheinwerfer, nur Bretter und unverputzte Mauer, Gymnastikaufmachung, nicht Tineffglanz, Scheunenbeleuchtung, Biergartenbänke statt Barhocker.
Das dicke Mädchen in dem orangefarbenen Fähnchen, unter dem alles in Bewegung ist (ruckartig ausbuchtend, wie Fußbälle, die ins Netz knallen), strebt nach innen; der faltige Mann mit der schuppigen Haut und den breiten Hüften strebt nach innen, wie die hagere Dunkle, an der alles lang ist, am längsten die Zehen.
Etwa zwanzig Menschen sind es, die sich da mühen. Der Anspruch scheint ein bißchen hoch angesetzt, Nachhilfe nötig. Aber dafür tanzen sie ja, üben Buschpraktiken zum Abbau ihres Aggressionsstaus — Zivilisationsbewältigung nach Feierabend.
Erste Hilfestellung kommt von der Technik: Die Stereoanlage. Bei voll aufgedrehter Baßanhebung werden die Sonnengeflechte automatisch enthärtet. Hilfe leisten auch Peter und Ines, treiben die Versenkung durch Beispiel voran, helfen in den Rhythmus, stoßen Laute aus, Worte, Sätze, ermuntern hinauszuschreien, wonach jedem gerade ist. Bis alle mittun. Den entscheidenden Schritt zur Trance aber schafft die Gruppe durch sich selbst. Die entfachten Intensitäten heizen sich auf, steigern sich bis zu dem, was Peter und Ines Gruppenkatharsis nennen. Das Sichvergessen hat System.
»Alles er! Alles er! Ich bin gar nichts. Alles er!« brüllt einer; eine junge Frau wippt summend an Lukas vorbei. Auch ihn hat der Rhythmus angesteckt, vorsichtig wippt er, wippt heftiger, Rhythmus ist was Gutes.
»Nicht auf Tiefe mögeln! Laß die Schultern locker! Den Nacken! Dein Zärtlichkeitsbereich ist verklemmt!«
Ines stellt das fest. An sich eine Frechheit nach der Nacht mit Renate. Man kann also mehr sehen, als der Tanzende preiszugeben glaubt. Wippend verläßt er den Kreis, wird wieder Zuschauer.
Da ist das dicke Mädchen mit dem orangefarbenen Fähnchen. Es schreit, lauter als alle, die da vor sich hinsprechen, Laute ausstoßen. Mit geschlossene»Augen oder starrem Blick Stampfen sie, formieren sich, als sei das choreographisch festgelegt. Plötzlich ist ein Kreis um das Mädchen geschlossen, um das Mädchen, das immer wilder wogt, mit seinen Massen mehr um sich schlägt als tanzt. Zurufe blitzen auf; eine Interaktion bahne sich an, erklärt Ines.
»Mopsgesicht!« hat einer gerufen und Nachahmer gefunden. »Quadratarsch!« ruft eine; »Tittenziege!« ein dritter. Immer dichter hageln die Zurufe, steigern sich zu rhythmischen Sprechchören, der Kreis wird enger. Das Mädchen schreit dagegen an, ist getroffen, kniet, schlägt den Kopf auf den Boden, reißt sich den Gürtel herunter, wickelt ihn um den Hals und zieht an beiden Enden, daß die Augen hervortreten, während der Chor weiterjohlt, wie im Blutrausch.
Zwei Ohrfeigen knallen. Das Mädchen läßt den Gürtel los. Peter hat eingegriffen. Eine Handlungskatharsis, erfährt Lukas. Von da an läßt Peter das Mädchen nicht mehr aus den Augen. Es kniet immer noch und schreit und trommelt dabei wie eine Irrsinnige mit den Fäusten auf den Boden.
»Da kommen wir ja grad richtig!« sagt jemand mit deutlichem Dialektanklang. Lukas dreht sich um:
Polizei. Drei Mann.
»Ausweis!« herrscht ihn der eine an, während seine Kollegen ausschwärmen, einer zu Peter, einer zur Stereoanlage. Ines versperrt ihm den Weg.
»Nicht abschalten! Auf keinen Fall. Das kann zu schweren psychischen Konsequenzen führen!« sagt sie, droht sie.
»Psychische Konsequenzen — das muß für die Obrigkeit in diesem Land ein Schreckenswort sein. Da erstirbt sofort jede Aktivität im Sinne von Ruhe und Ordnung. Da fallen drei Kinnladen in die Position Ratlosigkeit, da kann sich die Polizei nur noch hinausreden auf den Befehl (für den sie nichts kann) bei Ines, bei Peter, bei Lukas, während die Ekstase weiterrast.
»Sag, ich war’s! Sag’s, du Schwein, du Hund, du Verbrecher!«
Mit gespreizten Fingern steht die hagere Dunkle da, zitternd bis hinunter in die langen Zehen. Die Beamten wahren >Souveränität< indem sie überhören, was sie nicht; verstehen, Information ausbreiten statt dessen: Eine Anzeige liegt vor, nicht aus dem Ort, aus der Kreisstadt, daß Orgien stattfinden in der Scheune, schwarze Messen mit Folterungen, Sexualverbrechen an Minderjährigen. Es wär’ immer laute Musik,
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