Erlebnisse eines Erdenbummlers
sozial zu husten, zu niesen und zu schwitzen.
O, wie hat diese unselige Gesetzesfabrikation dem Vaterlande geschadet. Sie ist es, die dem deutschen Manne das Beste nahm, was er überhaupt hatte, die pflichttreue und das stolze Gefühl, daß er zunächst selber verantwortlich sei für sein eigenes Wohl und das seiner Familie. Sie ist es, die den moralischen Zusammenbruch unseres Volkes seit dem Jahre achtzehn verschuldete, weil wir zu einer Herde geworden waren, die nach Futterblökte, statt zu arbeiten, wenn sie Hunger hatte. Wehe dem deutschen Ärztestand, daß er sich damals nicht wie ein Mann erhob und dem Staate sein non possumus entgegenschleuderte. Daß er nicht sagte: »Mach', o Staat, mit deinen Arbeitern, was du willst, wir tun nicht mit. Für uns bleibt jeder Kranke, der unsere Hilfe nachsucht, Privatpatient. Der Arme, der nichts hat, ist uns nichts schuldig. Der Vermögliche aber verbürgt uns die Existenz.« Leider! Leider! – – Was in England, in Amerika todsicher erfolgt wäre, es geschah bei uns nicht. Die Adepten eines Hufeland, Humboldt und Virchow hielten still und ließen sich das Joch des Staatssozialismus hinter die Büffelhörner legen. Von da ab der Niedergang der Ärzteschaft. Eingeklemmt als Puffer zwischen die Begehrlichkeit der Arbeitnehmer und den Geiz der Arbeitgeber und Kassenverwaltungen mußten sie zur formlosen Masse zerrieben werden. Man denke doch nur, seit der Inauguration des neuen Evangeliums gab es – zum ersten Male seit der Vertreibung aus dem Paradiese – Dinge, für die man kein Geld auf den Tisch zu legen brauchte. Man konnte Medikamente, Seife, Wein, ja »Ferientage vom Ich« erhalten, ohne einen Pfennig zu bezahlen. Alles das mit ein paar Zeilen, die der Arzt auf einen Zettel schrieb. Aber der, konnte der sich der Hochflut der Fordernden entgegenstemmen? O, der sollte nur! War man als Versicherter nicht sein Herr? Konnte man ihn nicht brotlos machen, wenn man seine Sprechstunde mied? War er nicht geächtet, wenn man in den Werkstätten die Losung ausgab:»Bleibt von ihm weg, er ist kein Doktor für den armen Mann.«
Und der andere Stein des Mahlganges, die Kassenverwaltung, was tat denn die? War einmal in der höchsten Not der Krankheit dem Patienten eine Flasche Wein aufgeschrieben worden, so hatte man sich als Arzt am Monatsschluß zu verantworten, wieso und warum man derart unerklärlich mit dem Kassenvermögen hause. Was lag dem Herrn Direktor daran, was aus dem Kranken werde. Er kannte seinen Namen kaum. Eine gute Bilanz am Schlusse des Geschäftsjahres, das war's, worauf man hinarbeitete, weil dann mit dieser die Gehälter des Kassenpersonals erhöht werden konnten. Von dem gleichen Standpunkte aus wurden die ärztlichen Honorare heruntergedrückt auf dreißig Pfennige für den Krankenbesuch. Man vergaß ganz, daß man für einen Groschen wohl einen Löffel haben konnte, daß dieser aber kaum von Silber war. Mit anderen Worten: Die ärztliche Leistung wurde diesem Honorar gleichwertig gemacht, um den Goetheschen Spruch zu bewahrheiten, daß »Vernunft Unsinn und Wohltat Plage wird«. O, wieviel Ethik ist seither verloren gegangen in dem mehr als dreißigjährigen Kriege der Ärzte mit den Kassenverwaltungen! Jeder neue Tag gebar den alten Ekel wieder vor der Krankenkassenpraxis und die Sehnsucht nach ein paar Tagen Erholung von der schmachvollen Kuliarbeit.
In jener Zeit, es mag so gegen den Anfang der neunziger Jahre gewesen sein, verabredete ich mit meiner Frau eine kleine Schweizerreise. Eine Verwandte ausHeidelberg schloß sich uns an und nach einer sechsstündigen Nachtfahrt schon saßen wir im Bahnhof zu Basel vor unserem Morgenkaffee. Er war nicht allzu heiß, als wir ihn bekamen, und doch hatten wir ihn noch nicht getrunken, als schon der Schaffner in den Wartesaal hereinrief: »Einsteigen zur Abfahrt nach Olten, Luzern, Bellinzona, Mailand.«
»Einsteigen, ja einsteigen, das wäre schon recht, wenn wir nur erst den Zahlkellner dahätten.«
Ich klopfte mit dem Kaffeelöffel an die Tasse. Er ließ sich sehen, kam aber nicht näher. Ich rief, und er verschwand hinterm Büfett. Meine Damen wurden unruhig, denn rings um mich her da leerten sich schon die Tische. Sollten wir gehen, ohne bezahlt zu haben? Welche Blamage, wenn wir angehalten wurden! Sollten wir auf einen Fensterplatz verzichten, wir, die wir zum ersten Male den Wundern der Alpenwelt entgegenfuhren? Beide Eventualitäten waren für uns gar schmerzenreich.
Ich war indessen aufgesprungen
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