Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
liegt. Hier hat sich das muslimische Leben noch relativ wenig verändert. Wir fahren in einem Jeep noch weiter in die Wüste hinein. Es scheint eine Landschaft ohne Grenzen zu sein, in der man sich verlieren kann: Die Täler gleichen sich, Wegweiser gibt es nicht, man erkennt Sandpisten, doch die Orientierung ist nicht einfach. Ich bin froh, dass wir nach einigem Suchen den Rückweg zur Oase finden. Sehr befriedigt kehre ich schließlich nach Algier zurück, kann dort auch den katholischen Erzbischof und die Weißen Väter besuchen und werde freundlich aufgenommen.
Die Lage der Weißen Väter ist seit meinem ersten Besuch in Afrika 1955 nicht leichter geworden. Einerseits ist der Islam sowohl politisch wie religiös aktiver geworden, andererseits hat sich die Lage in der katholischen Kirche verfestigt, sodass die Dialogarbeit der Weißen Väter nicht immer die nötige Unterstützung gefunden hat.
Diskussion in Teheran über die Stellung der Frau
Schon am Tag nach meiner Rückkehr nach Deutschland geht es wieder in ein islamisches Land, dieses Mal erneut nach Iran. Der deutsche Außenminister HANS-DIETRICH GENSCHER hat mich gebeten, ihn auf seiner Staatsreise nach Teheran zu begleiten. Ich könne parallel zu seinen politischen Verhandlungen Gespräche mit den religiösen Autoritäten führen. Nun haben Staatsreisen den Vorteil, dass sie rasch abgewickelt werden, man fliegt in einer Regierungsmaschine ohne Pass- und Zollprobleme, wird überall von einem Ort zum anderen chauffiert. So habe ich diese Einladung gerne angenommen. Am 27. November 1988 fliegt die Delegation von Köln/Bonn in fünf Stunden nach Teheran. Professor JOSEF VAN ESS und Dr. KARL-JOSEF KUSCHEL waren parallel vom Direktor des Goethe-Instituts nach Teheran eingeladen worden und sind beim Dialog im Institut für Philosophie dabei.
Hier finden nun Gespräche mit einer Gruppe von rund 20 Mullahs statt, die jeweils drei Stunden dauern und, da man auf jedes Wort aufpassen muss, recht anstrengend sind. Natürlich sprechen wir zunächst über Probleme, bei denen eher ein Konsens zu erreichen ist. Ein besonderes Interesse zeigen die islamischen Gottesgelehrten für die Fragen der Hermeneutik, also der Verstehenslehre. Ist es doch keine Frage, dass die christliche Theologie im zeitgemäßen Verständnis der Bibel, von Impulsen der Reformation und der Aufklärung angetrieben, erheblich größere Fortschritte gemacht hat als die islamische Theologie im zeitgemäßen Verständnis des Korans. Allzu früh hatte sie ja im Mittelalter die Philosophie verabschiedet (allerdings nicht in Iran), blieb so selber im Mittelalter stecken und bemühte sich nur wenig um die Übersetzung der Botschaft aus dem 7. Jahrhundert in die Welt des 20. Jahrhunderts.
Erst in der vierten Sitzung greife ich mit großer Behutsamkeit eine besonders heikle Frage auf: die Stellung der Frau . Doch rede ich zuerst von den Problemen mit der eigenen christlichen Tradition: wie es möglich ist, etwa die Passage im fünften Kapitel des Epheserbriefes vom Verhältnis von Mann und Frau, die ein patriarchales System als Hintergrund hat, für die heutige Zeit zu interpretieren: »Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter … der Mann ist das Haupt der Frau« (Eph 5,22 f). Das heiße doch, diese Schriftpassage zu interpretieren entsprechend der in der Neuzeit erkannten, formulierten und sogar von der UNO proklamierten Menschenrechte für die Frau.
Das Problem spitze ich zu auf die klassische Kontroversfrage, die sich geradezu scholastisch in Kategorien von Vernunft (modern inkarniert in den universalen Menschenrechten) und Offenbarung (Koran) präzisieren lässt anhand des berühmt-berüchtigten Verses 34 der Sure 4. In diesem Koranvers sind dem Mann faktisch drei Stufen der »Zähmung einer Widerspenstigen« gestattet: zuerst Gespräche, dann Meiden des Ehebettes, schließlich Schläge. Das islamische Strafrecht geht sogar noch erheblich über den Koran hinaus und befiehlt geradezu, Ehebrecherinnen und Ehebrecher auszupeitschen.
Meine Frage präzis gestellt: Was gibt den Ausschlag im Fall eines Widerspruches zwischen Vernunft (das Menschenrecht der Frau auf körperliche Integrität) und Offenbarung (vom Koran gestattete Körperstrafe), die Vernunft oder die Offenbarung? Sofort setzt unter den iranischen Gelehrten eine intensive Diskussion in Farsi, also ihrer Landessprache, ein. Und es ist das einzige Mal, dass ich länger auf eine Antwort warten muss. Erst nach zehn oder 15
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