Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Minuten intensiver Auseinandersetzung hat man sich auf eine Antwort geeinigt, und ein Sprecher der Gruppe antwortet: Im Fall eines solchen Widerspruchs muss neu überlegt werden, wie die betreffende Aussage der Offenbarung zu interpretieren ist. Mit anderen Worten: es werden nicht etwa die Menschenrechte der Frau in Zweifel gezogen, sondern die traditionelle Interpretation der Offenbarung. Ein erstaunliches Resultat, das man in Diskussionen mit Muslimen selten so deutlich zu hören bekommt.
Nach kritischen Auseinandersetzungen spreche ich nachher gerne die Person an, bei der ich am meisten Widerstand erwarte. Ob das nicht vielleicht Ayatollah Khomeinis Schwiegersohn ist? Doch ich täusche mich. Dr. Borudscherdi bedauert sehr, dass seine Frau nicht bei dieser Sitzung dabei sein konnte; als Präsidentin des Iranischen Frauenverbandes müsse sie heute Pflichten in einer anderen iranischen Stadt wahrnehmen. »Aber Sie müssen wiederkommen«, fügt er hinzu, »und dann müssen Sie besonders zu den Frauen sprechen.«
Aber ich werde nicht so bald wiederkommen. Die Fronten zwischen Iran und den USA verhärten sich wieder. Erneut erfolgen mehrere Todesurteile über Regimegegner. Unter diesen Umständen kann ich es nicht verantworten, in Teheran weitere friedliche Dialoge zu führen. Nach einiger Zeit höre ich auch, Mohammad Khatami und gemäßigte Kräfte hätten stark an Einfluss verloren. Und doch ist das noch nicht das Ende der Entwicklungen.
Im Jahr 1997 wird Khatami überraschend zum Staatspräsidenten gewählt – vor allem mit den Stimmen der Frauen und der Jugend! 2001 wird er für weitere vier Jahre wiedergewählt. Neue Perspektiven für den Dialog der Kulturen und der Religionen eröffnen sich damit – zunächst. Doch leider nutzt er die geballte Kraft des Volkes nicht und wird auch von den USA nicht entsprechend unterstützt, um ein demokratisches Regime durchzusetzen. Mitte Juli 2000 kommt er auf Einladung des damaligen Bundespräsidenten JOHANNES RAU zum Staatsbesuch nach Deutschland. Am 12. Juli diskutiere ich mit ihm und Professor van Ess auf einem Podium in dem von einem Überaufgebot von Polizei abgeriegelten Stadtschloss von Weimar über »Dialog der Zivilisationen«. Auch hier schneide ich die Bahai-Frage an. Als ich insistiere, sagt Khatami: »Der große Gelehrte Hans Küng spricht wie ein Außenminister!« Ich: »Keineswegs, ich rede wie ein Theologe und nicht wie ein Außenminister«. Er: »Gut so, als Außenminister wären Sie mir auch zu schade!« Großes Gelächter im handverlesenen deutsch-iranischen Publikum. Nachher begibt man sich gemeinsam zum neu errichteten Erinnerungsdenkmal für den großen persischen Dichter HAFIZ (14. Jh.) und seinen Dialogpartner Goethe (»West-östlicher Divan«, 1819), das für diesen Anlass errichtet worden war.
Gerade ein Jahr zuvor hatte ich eine sehr beeindruckende Begegnung, bei der mir die Schwierigkeiten vieler Frauen in islamischen Ländern drastisch vor Augen geführt wurden: mein Auftritt mit Waris Dirie auf der Frankfurter Buchmesse 1999 . Das 13-jährige Nomadenmädchen aus Somalia war geflohen, um der Zwangsverheiratung zu entgehen, und zwar zu Fuß in die Hauptstadt Mogadischu. Dank der Vermittlung ihrer Großmutter kommt sie nach London. Ständig auf der Flucht vor ihrer drohenden Abschiebung, wird die hochgewachsene Schönheit schließlich von einem Starphotographen entdeckt und avanciert in New York zum gefragten Topmodel. Erst in London ist ihr aufgegangen, dass das schmerzhafte Ritual der genitalen Verstümmelung von Frauen, das auch sie erleiden musste, keineswegs allgemein üblich ist. Ich bewundere die schöne Frau, mit welcher Verve sie sich am 14. Oktober 1999 auf der Frankfurter Buchmesse nach meinem Referat einsetzt für die körperliche Unverletzlichkeit der Frau. Durch ihre Bestseller-Autobiographie »Wüstenblume«, die später auch verfilmt wird, kämpft sie gegen diese Beschneidung an. Sie legt auch mir gegenüber deutlich dar, dass die Beschneidung von Frauen weder im Koran noch in der Bibel vorkommt. In der Tat ist es ein uralter Brauch, der in Afrika und im Nahen Osten zum Teil verbreitet ist. Er ist vor-islamischen Ursprungs und nicht vom Islam vorgeschrieben. Es wäre zu überprüfen, ob sich dies nicht auch mit der Zwangsverheiratung und ähnlichem so verhält.
Paradigmenwechsel im Islam
Selbstverständlich habe ich in all den Jahren die weitere religionswissenschaftliche Forschung nicht vernachlässigt. Für das
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