Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Gotteserfahrung, Gottesverbundenheit und Gottesunmittelbarkeit, aus der er lebte, verkündete und handelte. Und er hat Gott als den Vater aller Menschen anzusehen gelehrt (im Gebet »Vater unser«), ja er hat Gott selber als Vater angeredet (»Abba, lieber Vater«). Also gab es einen sachlichen Grund und eine innere Logik dafür, dass er, der Gott seinen »Vater« genannt hatte, von seinen gläubigen Anhängern nachher ausdrücklich sein »Sohn« genannt wird. So steht es auch in einem der ältesten christlichen Glaubensbekenntnisse, in der Einleitung zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde von Rom: Jesus Christus, »eingesetzt zum Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten« (Röm 1,4). Das »Heute habe ich dich gezeugt«, bezieht sich also nicht auf das Weihnachtsfest, das Fest der Niederkunft, sondern auf Ostern, das Fest der Auferweckung, welches nicht umsonst das Hauptfest der Christenheit wurde.
Aber, fragen mich nun die Muslime: »Wie verhält es sich dann mit der Trinität?« Meine Antwort gebe ich so einfach wie möglich: »Gott ist der unsichtbare Vater über uns; Jesus, der Sohn des Menschen, Gott mit uns; der Heilige Geist aus Gottes Kraft und Liebe in uns.« Jetzt steht der Reeder auf und reicht mir feierlich die Hand: »Das ist das allererste Mal, dass ich von alldem etwas verstehe, ich danke Ihnen.« In Freundschaft nehmen wir alle voneinander Abschied.
Hier ist deutlich geworden, was ich unter einem ehrlichen und verständnisvollen Dialog verstehe: Ich bin nicht zum Missionar geworden, der schließlich einen Muslim zur christlichen Taufe geführt hätte. Aber ich bin auf die Fragen meiner Gesprächspartner eingegangen, habe sie beantwortet, und so eine Grundlage für eine Verständigung geschaffen zwischen den Angehörigen zweier Religionen, die sich bisher gegenseitig der Ignoranz und Arroganz angeklagt haben. So bleibt mir dieser Dialog in Lagos/Nigeria haften als ein Hoffnungszeichen, dass auch über schwierigste theologische Streitfragen eine Verständigung nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Wie schade, denke ich mir, dass unsere Bischöfe, die in der Mehrzahl in Rom studiert haben, von der römischen Kirchenleitung so dumm und uninformiert gehalten werden. Gerade jetzt wäre doch ein verständiger, theologisch fundierter Dialog mit den Muslimen bitter nötig.
Worüber man reden sollte
Beim Studium der neuesten historischen Forschung war mir zu meinem Erstaunen aufgegangen: In Muhammads Jesus-Verständnis kann man Überlieferungen der in der hellenistischen Kirche verdrängten, verachteten, vergessenen Judenchristenheit entdecken. Und diese Judenchristen haben ihrerseits in der jungen Christenheit zentrale jüdische Anliegen wachgehalten. Vom urchristlichen Gemeinde-Paradigma zum urislamischen Gemeinde-Paradigma gibt es also durchaus historische Bezüge, die allerdings noch genauer zu erforschen wären.
Das heißt: Jesus von Nazaret , ursprünglich verstanden, und der Prophet Muhammad sind sich näher, als man das normalerweise denkt. Denn Muhammad selber tritt ja auf als Zeuge für Jesus, für einen Jesus freilich, nicht wie ihn die hellenistischen Heidenchristen verstehen, sondern eher wie ihn Jesu erste Jünger, die bekanntlich Juden waren, verstanden haben könnten. Vielleicht sollte man also doch statt nur in Antithesen mehr in Synthesen denken: statt nur die Alternative Jesus oder Muhammad zu sehen, vielleicht doch Jesus und Muhammad. Man möge in meinem Buch über den Islam nachlesen, was mir da Anfang der 80er-Jahre aufging: wie Muslime Jesus sehen könnten, und umgekehrt, wie Christen Muhammad sehen könnten. Nur kurz angedeutet:
Seit jeher betrachten ja Muslime Jesus als den größten Propheten und Botschafter Gottes, der als »Knecht Gottes« von Gott besonders ausgezeichnet wurde von seiner Geburt bis zu seiner Erhöhung zu Gott und der mit dem, was er verkündete, für Muhammad eine bleibende Bedeutung hat. Natürlich ist für Muslime nach wie vor Muhammad und der von ihm gebrachte Koran die entscheidende Richtlinie für Glauben und Handeln. Aber wenn Jesus im Koran schon »Wort Gottes« und »Träger des Evangeliums« genannt wird, müssten die Muslime dann nicht doch dieses Evangelium umfassender, von den neutestamentlichen Schriften her, zu verstehen suchen?
Und was die Christen betrifft, so betrachten ja heutzutage viele Christen Muhammad als einen für viele Völker dieser Erde bedeutenden Propheten, der schon zu seinen Lebzeiten mit reichem
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