Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ungeöffnet, holt mich erst in Tübingen wieder ein.
Am Montag, den 14. Mai 1990, treffen wir uns am Morgen im Islamic Studies Department der King Saud University zu einem ersten Kennenlernen. Der Kontakt wird erleichtert durch meine Eingangserklärung, ich sei weder als Missionar noch als Orientalist nach Arabien gekommen, sondern als Gelehrter und am Frieden zwischen den Religionen interessierter Christ. Anschließend folgt ein Mittagessen beim deutschen Botschafter, an dem auch mein Gastgeber, Dr. ZAID AL-HUSSAIN , der Generalsekretär des King Faisal Center for Research and Islamic Studies, teilnimmt. Am Nachmittag zeigen mir die saudischen Gastgeber den rekonstruierten Empfangspalast des alten Riad und den großartigen modernen königlichen Empfangspalast. Doch bald fällt mir auf, wie der mich begleitende Dr. al-Hussain im Auto eifrig Telefongespräche auf Arabisch führt. Erst später wird mir klar: Es geht um meinen für denselben Abend angekündigten öffentlichen Vortrag über »Das ursprüngliche Christentum zwischen den Evangelien und dem Koran«. Nach stundenlangem Hin und Her fällt die Entscheidung: Der Vortrag muss abgesagt werden.
Dies ist nicht gegen mich gerichtet, sondern geschieht aus Furcht vor Protesten und möglicher Unruhe im Saal. Man bringt mir das schonend bei: Der Vortrag finde stattdessen im privaten Rahmen statt. Etwa 30 Personen versammeln sich in einem großen Wohnzimmer und stellen mir Fragen, die ich nicht in erster Linie erwartet habe: nicht zur aktuellen Situation oder zum Verhältnis zwischen Muslimen und Christen, sondern hochdogmatische Fragen zur Trinität, zur Inkarnation, zur Kirche usw. Alles verläuft in größter Freundlichkeit, und ich verbringe danach eine ruhige Nacht.
Am nächsten Tag geht es im Flugzeug nach Dschidda am Roten Meer, wo ich nach einer Fahrt am wunderbaren Strand entlang eine Unterredung mit dem Generalsekretär der Muslimischen Weltliga, Dr. ABDULLAH NASEEF , habe. Ich versuche ihn auf das gemeinsame Ethos von Islam und Christentum anzusprechen, ohne feststellbare Wirkung. Einen netten familiären Aspekt erhält mein Aufenthalt dadurch, dass in meinem Hotel mein Neffe Beat in leitender Stellung tätig ist. Er erzählt mir unter anderem, dass in diesem Hotel zeitweise feuchtfröhliche Feste mit den königlichen Prinzen gefeiert würden. Deren Paläste bekomme ich freilich nur von außen zu sehen. Tags darauf fliege ich weiter nach Amman, wo mich Kronprinz HASSAN BIN TALAL in seinen Palast zum Essen einlädt; wie immer tauschen wir unsere Erfahrungen aus und können viele Gemeinsamkeiten in unserem Einsatz für den interreligiösen Dialog feststellen. Meine Reise endet in Jerusalem, worüber ich im folgenden Kapitel über das Judentum berichten werde.
Eine ähnliche Enttäuschung wie in Riad erlebe ich am 7. September 1990 in Bamberg: Da sollte auf Initiative von Dr. ABDULLAH AT-TURKI, Rektor der Ibn Saud Islamic University (Riad), eine Arbeitsgemeinschaft für wissenschaftliche Islamforschung gegründet werden. Von deutscher Seite nehmen unter anderem die bekannten Islamologen FRITZ STEPPAT , ROTRAUD WIELANDT und ANGELIKA NEUWIRTH teil. Professor Elshahed stellt das Projekt vor. Wir verabschieden uns freundlich, aber von den saudischen Partnern haben wir nie mehr etwas gehört. Offenkundig war auch dieses Unternehmen auf Weisung von oben abgeblasen worden.
Islam mit mystischem Hintergrund: Indonesien
Ein sehr viel freundlicheres Gesicht als in Iran zeigt der Islam in jenen Gebieten, die nicht aufgrund einer militärischen Eroberung islamisch wurden, sondern aufgrund einer missionarischen Durchdringung. Das betrifft neben Teilen Indiens und Schwarzafrikas vor allem Indonesien. Dort haben einzelne Sufis (Asketen oder Mystiker), die aber nach wie vor ihren Beruf ausüben und Familien haben, missionarisch gewirkt, oft aber auch ganze Sufigemeinschaften, die unter einem Scheich als geistlichem Führer ordensmäßig organisiert sind, mit Ordensregeln, Ordensoberen, Ordenstracht. Oft ist es ein ganzes Netzwerk mit Sufizentren, die sozial-karitativ und missionarisch tätig sind.
Ich hatte Indonesien schon 1971 besucht (vgl. Bd. 2, Kap. V: Indonesien: toleranter Islam), aber es hat sich vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten gewaltig verändert. Im Jahr 2010 hatte ich mich auf Anregung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) für öffentliche Vorträge und Dialogveranstaltungen in Indonesien
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