Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
20 Kilometer Asphaltstraße, die Stadttore der Hauptstadt Maskat nachts geschlossen, mittelalterliches Strafrecht … Schon in den 90er-Jahren hatte ich das Land zum ersten Mal kennengelernt und gestaunt über das, was ich sah und hörte: ein ständig wachsendes Netz von Straßen und Autobahnen, von Schulen und Krankenhäusern, schöne öffentliche Gebäude und Privathäuser. Anders als im angrenzenden Saudi-Arabien dürfen in Oman Frauen Auto fahren, im Symphonieorchester mitspielen, alle möglichen Positionen und auch hohe Staatsstellen besetzen. Oman verdankt diese erstaunliche Modernisierung nach Maß der Weisheit und Tatkraft seines aufgeklärten und allgemein beliebten Herrschers, SULTAN QABUS BIN SAID . Dieser hatte 1970 seinen traditionalistischen Vater abgelöst und gezeigt, wozu ein arabisches Land fähig ist. Selbstverständlich kann Oman beim gegenwärtigen Stand der Demokratisierung nicht stehen bleiben. Das Bedürfnis nach besserer Partizipation des Volkes in den politischen Einrichtungen und der Gleichberechtigung der Frauen ist auch hier weit verbreitet.
Ich reise gerne nach Oman, nicht nur weil das Land mit seinen Gebirgen, Wüsten und Stränden landschaftlich sehr eindrucksvoll ist, sondern auch weil die Menschen außerordentlich liebenswürdig sind. Das hat auch mit ihrer Religion zu tun: Sie sind Muslime eigener und durchaus sympathischer Art. Sie sind weder Sunniten noch Schiiten, sondern gehören zur dritten Gruppe, den Charidschiten, die wieder neu auf den Koran, als den für alle Muslime unverrückbaren Maßstab zurückkommen wollen. Ihr wichtigster Zweig sind die Ibaditen , vielfach Kaufleute, die den Fernhandel von Nordafrika bis nach Oman und Indien in den Händen haben. Ihnen ist das Ideal der Gleichheit wichtig, und die Frauen haben bei ihnen seit jeher verhältnismäßig viel Einfluss. Sie verabscheuen den Hass gegenüber den anderen Gruppen und sind bekannt dafür, dass sie einen Muslim, der sich zur Flucht gewandt hat, nicht verfolgen. Frühe Entwicklungen zu einer Praxis der Gewaltlosigkeit sind sichtbar und zeigen sich auch heute in einer friedlichen Außenpolitik nach allen Seiten. Und in einem besonderen Interesse am interreligiösen Dialog.
Als man im Religionsministerium vernimmt, ich sei in Oman, lädt mich Scheich ABDULLAH BIN MOHAMMED AL-SALMI , Minister für Stiftungen und religiöse Angelegenheiten, ein. Er und sein Neffe Dr. ABDULRAHMAN AL-SALMI , Herausgeber der Kulturzeitschrift »Al-Tasamoh« (»Toleranz«), und ich werden rasch Freunde. Es ist für mich ein großes Privileg, im großen Hotel Al Bustan vor hohen omanischen Würdenträgern, darunter der Mufti und mehrere Minister, einen Vortrag zu halten über den Religionsfrieden als Voraussetzung des Weltfriedens. Später spreche ich verschiedentlich auch in der großen Sultan-Qabus-Moschee in Maskat. Überall dient Professor REDWAN SAYED aus Beirut als kundiger Übersetzer und Interpret. Mehrfach bin ich auch privat in das Haus des Ministers eingeladen und habe umgekehrt ihn zu Gast in meinem Haus in Tübingen. Einen Höhepunkt unserer Beziehungen bildet zweifellos ein wissenschaftlicher Kongress an der Universität Tübingen 2011, organisiert von meinem Kollegen HEINZ GAUBE , der seit seiner Emeritierung hauptsächlich als Forscher in Oman lebt. Er hat es erreicht, dass mehrere Dutzend Spezialisten aus aller Welt in Tübingen zusammenkommen, welche die Wirkung Omans nach außen und die Sicht der Außenwelt auf Oman und die Ibaditen behandeln.
Der »Arabische Frühling«: Tunesien
Im November 1998 bin ich wieder einmal in Tunesien – dieses Mal im Rahmen des Projekts »Spurensuche« für Aufnahmen unseres Films über den Islam. Wir hatten vorher in Marseille gedreht, und die Crew war direkt von Marseille nach Tunis geflogen. Ich selber muss zwischendurch als Sondergast von Bundespräsident ROMAN HERZOG am Staatsbesuch in Israel und Jordanien teilnehmen und fliege deshalb nach Berlin zurück.
Beim Flug von Berlin nach Amman löst die Meldung Verwunderung in der Präsidentenmaschine aus, dass unserem Filmteam auf dem Flughafen in Tunis alle Geräte beschlagnahmt worden seien. Am 16./17. November 1998 besuchen wir Beerscheba und Jerusalem und treffen bei Jericho mit Palästinenserpräsident JASSIR ARAFAT zusammen, bevor wir nach Amman weiterfahren. Doch nehme ich schon am 18. November ein Flugzeug von Amman nach Tunis, wo ich mein etwas deprimiertes Team wiederfinde. Geduldige diplomatische Verhandlungen,
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