Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
gerne bereit, einem bekannten Mitbürger seinen Pass mit einer beschränkten Verlängerung zu versehen. Gott sei Dank. Rein ins Flugzeug, und dann zehn Stunden Flug zur Entspannung.
In Beverly Hills bin ich im berühmten Beverly Hilton Hotel am Sunset Boulevard untergebracht. Am 10. März werde ich dort abgeholt von Rabbi JACK SHECHTER . Mein Vortrag in Valley Beth Shalom zum delikaten Thema: »After the Holocaust, Re-Emergence of State of Israel, Unification of Germany: The Relationship Between Jews and Christians« wird sehr freundlich aufgenommen. Am nächsten Tag (11. 3.) derselbe Vortrag im Sinai Temple in Beverly Hills. Im weiteren Verlauf der Vortragsreihe sprechen New Yorks Bürgermeister EDWARD KOCH und der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, EDGAR BRONFMAN .
Am 12. 3. fährt mich ROBERT BLAIR KAISER , mein alter Freund aus Konzilszeiten, von Los Angeles zum Vortrag nach Long Beach, zur California State University. Am selben Abend halte ich einen Vortrag in der Gemeinde »Ner Tamid« in Palos Verdes. Am 13. 3. fliege ich von Los Angeles nach San Diego. Hier habe ich ein Dinner mit Rabbi MARTIN LEVIN und einen Vortrag an der Synagoge Beth El. Tags darauf Flug von San Diego nach Palm Springs. Hier nach dem Essen mit Rabbi JOEL HURWITZ mein Vortrag im Temple Isaiah. Am 15. 3. fahren mich mein Freund Professor DAVID NOEL FREEDMAN von der University of Michigan und meine dortige Sekretärin ASTRID BECK nach San Diego zurück. Auf der Fahrt durch die kahlen rotbraunen Hügel sehe ich zum ersten Mal etwa zwei Dutzend weißer Windräder auf einem der Hügel – ganz dekorativ, aber auf dem Tübinger Österberg oder auf der Schwäbischen Alb möchte ich bei aller Sympathie zu den Grünen lieber keine solchen Räder sehen und hören. Dann an der University of California in San Diego zuerst ein Luncheon mit der Fakultät, dann Kolloquium mit den Studenten, Pressekonferenz und nach dem Dinner ein Vortrag »No Peace Among the Nations without Peace Among the Religions«. Am 16. 3. noch weitere Gespräche.
Am 17. 3. Flug von San Diego nach New York. WERNER MARK LINZ , mein Verleger, empfängt mich. Ich nehme an den Candlelight Vespers in der Cathedral of St. John the Divine teil. Anschließend folgt mein Vortrag über das Weltethos-Thema: » Global Responsibility . In Search of a New World Ethic«. Das ist auch der englische Titel meines Buches »Projekt Weltethos«. Doch kann sich das neue Wort »World Ethic« im Englischen nicht durchsetzen, sodass ich mich auf das Synonym »Global Ethic« festlege.
Am 18. 3. fliege ich von New York direkt nach Zürich, wo ich am 19. 3. 1991, also an meinem 63. Geburtstag, morgens ankomme. Weiter geht’s im Auto nach Basel zu einem Vortrag beim Schweizerischen Bankverein über »Europa – 700 Jahre Eidgenossenschaft«. Anschließend lasse ich mich noch zurückfahren nach Tübingen.
Eine Riesentour, die abenteuerlich begonnen hat, ist pannenfrei beendet worden. Ich verdanke das wesentlich den verschiedenen Rabbinern, die mich überall liebenswürdig aufgenommen und ständig begleitet haben. Bei Reformrabbinern oder konservativen Rabbinern gibt es ja keine Probleme mit Speisevorschriften und anderen Einschränkungen. So hat sich denn meine Einsicht aus St. Louis bestätigt: Mit manchen dieser Rabbiner fühle ich mich wohler als mit romhörigen Monsignori.
Besser verstandene jüdische Geschichte
Anlässlich eines Vortrags an der Washington University in St. Louis/Missouri, im Jahr 1985 während meines Gastsemesters in Toronto, lerne ich einen gelehrten jüdischen Historiker kennen, dem ich eine positivere Sicht der Geschichte des europäischen Judentums verdanke: Professor PETER RIESENBERG . Ich höre ihm aufmerksam zu. Die Verfolgung des Judentums, erläutert er mir, sei kein Dauerzustand gewesen, sei vielmehr immer bestimmten sozioökonomischen Faktoren zu verdanken. So seien Juden bis zu den Kreuzzügen in relativ großer Zahl wohlhabend, gar reich gewesen, und dies alles aufgrund ihrer Leistungen nicht nur auf ökonomisch-finanziellem Gebiet, sondern auch in Regierung, Wissenschaft und Kultur.
Woraus folgt: Neben der furchtbaren Leidensgeschichte der Juden seit dem hohen Mittelalter dürfe ihre bewunderungswürdige Erfolgsgeschichte durch all die Jahrhunderte längst vor der Gründung des Staates Israel nicht übersehen werden. Manche Aussagen früherer jüdischer Historiker, die unter dem Eindruck des Holocausts die vorausgegangenen
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