Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
gehen können.
Als christlicher Theologe in der Synagoge
Es ist mir das Glück beschieden, dass mir das Judentum nicht nur in meiner Schweizer Jugend in menschlich sympathischen Repräsentanten begegnet ist, sondern dass ich auch in meinem späteren wissenschaftlichen Leben, besonders während meiner Gastsemester in Amerika, mit nicht nur sympathischen, sondern auch anspruchsvollen und bereichernden jüdischen Persönlichkeiten zusammenkommen kann.
So während meines Gastsemesters an der University of Toronto im Herbst 1985: Ich werde von Senior Rabbi DOW MARMUR eingeladen, in seiner großen und schönen Synagoge, dem Holy Blossom Temple, einen Vortrag zu halten (am 20. Oktober 1999 konnte ich abermals dort sprechen). Ich kenne den zuvor in Großbritannien wirkenden Rabbiner schon von seinem Buch »Jenseits des Überlebens. Reflexionen über die Zukunft des Judentums« her 4 . Mich beeindruckt die Haltung dieses Rabbiners, weil er die Anliegen der so unterschiedlichen Hauptrichtungen des gegenwärtigen Judentums angemessen und sinnvoll in ein Ganzes einzuordnen versteht und diese Haltung auch praktiziert.
Es leuchtet mir ein: Mit den Orthodoxen ist die große jüdische Tradition ernst zu nehmen, wenngleich ohne fundamentalistischen Standpunkt und legalistischen Extremismus. Zugleich aber hat man mit den Liberalen offen zu sein für die Einflüsse der nichtjüdischen Welt, ohne jedoch in eine Art Unitarismus abzugleiten. Also aufs Ganze gesehen ein Weg der Mitte, aber nicht der Mittelmäßigkeit. Leidenschaftlich engagiert sich ja Rabbi Marmur in seiner Synagoge für jüdische Erziehung und anerkennt auch die Bedeutung des Zionismus und des Staates Israel für das Gesamtjudentum.
Mein Vortrag »Is there one true religion?« wird sehr interessiert aufgenommen. Und beim anschließenden Essen lerne ich unter den vielen interessanten Persönlichkeiten des kanadischen Judentums auch den hochverdienten Rabbiner deutscher Abstammung W. GUNTHER PLAUT kennen, der sich eingehend mit den europäischen Wurzeln und der Entwicklung des amerikanischen Reformjudentums beschäftigt hat. Mir schenkt er zu meiner Freude seine vor Kurzem erschienene modern kommentierte englische Ausgabe der Tora, hinter der eine Riesenarbeit steckt 5 : Zur selben Problematik spreche ich auch am 14. September 1987 im Jewish Theological Seminary in New York, anlässlich der 100-Jahr-Feier dieser ältesten Rabbinerlehranstalt des konservativen Judentums – für mich als den einzigen Christen eine große Auszeichnung.
Ein beeindruckendes Erlebnis habe ich während meines Gastsemesters an der Rice University in Houston/Texas im Herbst 1987. Hier mache ich die Bekanntschaft von Rabbi SAM KARFF , einer Persönlichkeit des Judentums von nationaler Bedeutung. Mehrere Jahre war er Präsident der Central Conference of American Rabbis. Auch doziert er an der Eliteuniversität Rice, und wir verstehen uns so gut, dass er mich einlädt, in seiner schon 1854 gegründeten Synagoge Beth Israel beim feierlichen, mit Orgel und Gesang gestalteten Sabbatgottesdienst zu predigen. So sitze ich am 27. November 1987 vorne beim Rabbiner und bete alle Gebete mit. Einen Widerspruch zu meinem christlichen Glauben kann ich dabei nicht entdecken. Bei den Psalmen, die ja auch in den christlichen Kirchen gebetet werden, ist das offenkundig. Aber auch andere Gebete kann ich mitvollziehen, wobei ich etwa den Begriff »Tora« für mich – wie manche Juden auch – mehr im Sinn eines »geistigen Gesetzes« verstehe und »Israel« weniger im Sinn eines Landes oder Staates. Nach dem Apostel Paulus ist ja der »Bund Gottes mit seinem Volk« Israel auch nach Christus nicht gekündigt (Röm 9,4; 11,29). Es berührt mich sehr, dass ich auch eine »Torah Consecration Ceremony« miterleben darf, durch welche einige Jungen und Mädchen vollwertige Mitglieder der Gemeinde werden.
Die Gemeinde lauscht meiner Predigt mit großer Aufmerksamkeit, und ich habe nachher beim Empfang noch Gelegenheit zum Austausch. Als mich Sam schließlich in seinem Auto auf unseren Campus zurückfährt, erzähle ich ihm voller Freude, wie ich alles mit Überzeugung hätte mitvollziehen können. Dies freut auch ihn, doch bemerkt er ernst: »Hans, umgekehrt gilt das nicht.« Er könne wegen der christologischen Ausrichtung »durch unseren Herrn Jesus Christus« und wegen der zahlreichen trinitarischen Formeln christliche Gebete nicht einfach mitbeten. Dafür habe ich Verständnis, und ich werde nie verstehen
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