Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
deshalb wichtig, weil er in einer scharfsinnigen Analyse über den Holocaust zwar die nationale Schuldverflochtenheit für alle Deutschen bejaht, aber gleichzeitig Stellung nimmt gegen den Holocaust als Instrument eines »Antigermanismus«: Die Deutschen dürften nicht wie die Juden, die rund 2000 Jahre lang als Christusmörder gebrandmarkt wurden, jetzt auf Jahrhunderte mit der Schuld am Judenmord behaftet bleiben. Und das Schlagwort »Auschwitz« dürfe nicht als Totschlagargument benutzt werden, um jede Kritik an einer Regierung des Staates Israel und deren antipalästinensischer Politik zu unterbinden.
Juden im Dienst der Versöhnung
Am 7. Juni 1984 erhält Fritz Stern an der Universität Tübingen den Leopold-Lucas-Preis. Der mit 50.000 DM dotierte Preis ist vom Sohn des in Theresienstadt ermordeten bedeutenden Rabbiners Dr. LEOPOLD LUCAS , Generalkonsul FRANZ D. LUCAS (London), gestiftet worden und wird jährlich an Geisteswissenschaftler vergeben, die sich um die Versöhnung zwischen den Völkern bemühen. Der Enkel Dr. FRANK LUCAS führt das große Werk weiter.
Mit einem weiteren der zahlreichen Juden, die sich dieser Versöhnungsarbeit widmen, mache ich Bekanntschaft: dem in Deutschland geborenen Rabbiner ALBERT H. FRIEDLANDER , Direktor des Leo Baeck College in London. Er hat in den 1980er-Jahren zum Unbehagen seiner Londoner Gemeinde einen längeren Studienaufenthalt statt in Jerusalem in Deutschland gemacht, dabei freilich seine schrecklichen Erlebnisse im Holocaust in keiner Weise verschwiegen. 8 Viele Jahre lang ist Friedlander regelmäßiger Redner bei Deutschen Evangelischen Kirchentagen.
In den Vereinigten Staaten lerne ich EDITH EVA EGER (La Jolla/Kalifornien) kennen, die mit 16 Jahren Auschwitz überlebt hatte. Sie benützt die damaligen schrecklichen Erfahrungen in positiver Weise, um Menschen psychotherapeutisch zu helfen, in schwierigen Situationen zu überleben. Sie bestärkt mich in der Überzeugung: Der notwendigen Erinnerung an den Holocaust angemessener, der Opfer des Holocausts würdiger und zur Bekämpfung des Antisemitismus wirksamer als allzu viele Holocaust-Gedenkstätten wäre es, Tempel des Friedens und der Versöhnung – zum gemeinsamen Gedenken, Bitten und Gesprächen – zu schaffen mit der Perspektive auf einen lebendigen Neubeginn. Ich bin stolz darauf, dass mir vom »Temple of Understanding« – so der Name einer weltweiten Organisation aus Juden, Christen, Muslimen und Angehörigen anderer Religionen zur interreligiösen Verständigung mit Sitz in New York – beim Parlament der Weltreligionen in Barcelona 2004 der Jahrespreis verliehen wird.
Alle diese für mich wegweisenden Gespräche halten mich natürlich nicht von meiner wissenschaftlichen Tätigkeit ab. Vielmehr regen sie mich an, die wissenschaftliche Erforschung des Judentums voranzutreiben, die sich schließlich in einer großen Synthese über das Judentum in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft niederschlagen wird. Denn anders als Joseph Ratzinger, für den das Judentum nur als Wurzelboden für ein das Judentum überbietendes Christentum und nicht als paralleler Heilsweg akzeptabel ist, ist für mich das Judentum eine gültige und lebendig gebliebene Religion, die nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart und eine Zukunft hat.
Doch nur wenn wir wissen, warum es so gekommen ist (»die Paradigmen der Vergangenheit«), können wir verstehen, wie es um uns steht (»die Herausforderungen der Gegenwart«), können wir vermuten, wohin sich alles wendet (»die Möglichkeiten der Zukunft«). Also die noch gegenwärtige Vergangenheit – die vorübergehende Gegenwart – die schon gegenwärtige Zukunft: Das Woher bestimmt noch weithin das Wo, und das Wo das Wohin (»Projekt Weltethos«, S. 165).
Paradigmenwechsel im Judentum
An der Rice University habe ich im Herbst 1987 und dann wieder im Frühjahr 1989 hervorragende Gesprächspartner nicht nur in der Person des Rabbiners Samuel Karff, sondern auch des christlichen Bibelwissenschaftlers DON C. BENJAMIN . Wie schon David Noel Freedman in Ann Arbor hilft dieser Neutestamentler mir, dem systematischen Theologen, mich in der gerade in Amerika vorangetriebenen exegetischen Forschung zurechtzufinden. So kann ich zum Beispiel den Forschungsstand in einer so umstrittenen Frage wie dem historischen Hintergrund der Landnahme Kanaans durch israelitische Stämme sichten. Hier in Houston studiere ich, wann immer ich Zeit habe, intensiv
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