Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Verfolgungen generalisieren und heroisieren, seien zu ergänzen und zu korrigieren. Gerade die Zeit von 430 (Augustins Tod inmitten der Völkerwanderung) bis 1096 (Beginn der Kreuzzüge) sei schon vom großen jüdischen Historiker BERNHARD BLUMENKRANZ (Paris) mit der Überschrift versehen worden: »Die Beziehungen guter Nachbarschaft«.
Riesenberg überzeugt mich, dass die Geschichte des Judentums von der hellenistischen Zeit bis zur italienischen Renaissance im Gesamtkontext des Schicksals vieler nationaler und religiöser Minderheiten gesehen werden müsse. Seine Absicht sei selbstverständlich nicht, »jüdisches Leiden oder auch die konstruktive Rolle zu bestreiten, die das Gedächtnis und selbst die Übertreibung dieses Leidens in den vergangenen 2000 Jahren jüdischer Geschichte gespielt haben«; seine Absicht sei vielmehr, »zeitgenössische Juden bewusster und sogar stolzer zu machen, als sie es waren, auf ihre lange Geschichte erfolgreicher Adaptation, Überlebens und Kreativität in aller Welt. Inmitten jeglicher Art von Gesellschaft haben sie weithin die eigene Identität und den eigenen Geist bewahrt, und sie haben auch zu vielen nichtjüdischen Zivilisationen Beiträge geleistet, während sie ihre eigene vorangebracht haben.« 6
Wichtige Einsichten in die neueste jüdische Geschichte hat mir ein anderer amerikanischer Historiker deutsch-jüdischer Herkunft vermittelt: FRITZ STERN , den ich, wie berichtet, von meinem Gastsemester am Union Theological Seminary in New York 1968 her kenne. Zusammen mit dem Soziologen RALF DAHRENDORF haben wir in seiner Wohnung ganz in unserer Nähe bis 2 Uhr morgens diskutiert. In Tübingen hat er mich später einmal besucht, und wir haben über Präsident Reagan und Papst Wojtyła gesprochen (vgl. Kap. IV). Im Jahr 1987 hält Fritz Stern vor dem Deutschen Bundestag die Gedenkrede zum 17. Juni (Volksaufstand in der DDR 1953). Er hat das »Drama der deutschen Geschichte« besser analysiert als die meisten deutschen Historiker. 7 Besonders habe ich es geschätzt, dass mit ihm nicht ein Theologe, sondern ein Historiker auf die fatalen Folgen einer totalen Säkularisierung und damit einer stillschweigenden Anerkennung des »Todes Gottes« (Nietzsche) hinwies – ein säkularer Ersatzglauben an die Nation für Deutsche wie für Juden! Juden entfremdete diese Ersatzreligion ihrer eigenen traditionellen Identität: Sie ließ sie, als Hitler sie auch noch des Deutschtums, also ihrer Nationalität beraubte, moralisch hilflos und wehrlos zurück. Deutsche aber machten die Identifikation des Göttlichen mit Nation (Volk, Staat) und bestehender Ordnung (Universität, Kunst) und die Entwertung dieser Glaubenssurrogate nach 1918 anfällig für den »Heilsbringer« Hitler und sein »Tausendjähriges Reich« von 1933. Nur zu viele glaubten jetzt an des »Führers« mystifizierend verschleiernde Reden von Vorsehung, Wundern, Mythos, Geheimnis, Autorität … Die wenigen, die widerstanden, hatten andere, moralische und religiöse, Maßstäbe.
Fritz Stern hat mehr zur Selbstbesinnung der Deutschen und zur Versöhnung zwischen Deutschen und Juden getan als manche, die den Holocaust zu oft durchsichtigen politischen Zwecken instrumentalisieren. Als er mich in Tübingen besucht, kreist unser Gespräch freilich fast ausschließlich um Papst Johannes Paul II. Stern bittet mich, wie er selber schreibt, im Einverständnis mit William Bundy um einen Artikel für »Foreign Affairs«. Ich hätte ihm »prompt« entgegnet: »Ja, falls ich in dem Artikel sowohl über den Papst als auch über Reagan schreiben kann« (F. Stern, »Fünf Deutschland und ein Leben«, München 2007, S. 545). In der Tat sehe ich, wie in Kapitel IV berichtet, manche Parallelen zwischen diesen beiden höchst konservativen Männern, die beide als Schauspieler begonnen haben, durch ihre Medienpräsenz wirken und so fähig sind, in sympathisch fortschrittlichem Gewand eine vielfach reaktionäre Politik akzeptabel zu machen.
Ein nicht weniger interessanter Gesprächspartner in Deutschland ist mir der Historiker MICHAEL WOLFFSOHN , der einzige Israeli als Professor an einer deutschen Universität, nämlich an der Bundeswehrhochschule in München. Er hat leider den Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Tübingen im Wettbewerb der Gelehrten nicht bekommen, den er meines Erachtens verdient hätte. Doch ich hatte mehr als einmal Gelegenheit, mit ihm fruchtbare Gespräche zu führen. Mir sind seine Auffassungen besonders
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