Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
welchem auch Polen als Aufseher beschäftigt worden waren). Doch zu diesen furchtbaren Ereignissen in seiner Heimat hat der polnische Papst auf all seinen »Pilgerfahrten« nie Stellung genommen. Dies erinnert an Papst Pius XII., der aus kirchenpolitischen Gründen jede öffentliche Stellungnahme zum deutschen Überfall auf Polen (1939) wie zu dem (ihm seit 1942 bekannten) Holocaust verweigerte – »ein christliches Trauerspiel«, wie dies ROLF HOCHHUTH im Untertitel zu seinem Drama »Der Stellvertreter« (1963) völlig zu Recht qualifizierte.
Eine von der polnischen Kirche nicht aufgearbeitete Schuld: Noch 2007 verurteilte der jahrzehntelange einflussreiche Sekretär Papst Wojtyłas, jetzt Kardinal von Krakau, STANISŁAW DZIWISZ , das Buch des aus Warschau stammenden amerikanischen Soziologen und Historikers JAN TOMASZ GROSS »Angst – Geschichte eines moralischen Niederganges«: Dies sei ein Angriff auf die Ehre der polnischen Nation. Dabei beschreibt und analysiert Gross sachlich die Mordtaten, denen Holocaust-Überlebende in den ersten beiden Nachkriegsjahren in Polen zum Opfer fielen. Der überwiegende Teil der polnischen Gesellschaft habe schon während des Krieges vor der Judenvernichtung die Augen verschlossen, ja sie insgeheim gebilligt. Viele Polen seien so Profiteure der deutschen Verbrechen geworden; sie hätten das Eigentum der Juden übernommen. Die Angst, dieses den Holocaust-Überlebenden wieder überlassen zu müssen, sei das Hauptmotiv für die Verbrechenswelle nach dem Krieg gewesen. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass in dem von dem Buch »Angst« ausgelösten Medienschlagabtausch gewichtige Zeitungen und Zeitschriften sich vor den Autor des Buches stellten, gegen den die Staatsanwaltschaft Krakau eine Untersuchung eingeleitet hatte. Und in neuester Zeit hat man sich intensiv mit dem Judentum in Warschau beschäftigt und 2013 ein Museum der Geschichte der polnischen Juden eröffnet.
Wie in Polen ist Gewissenserforschung und Reue jedoch von allen betroffenen Ländern gefordert. Für mich aber bleibt es jedenfalls bei der Einsicht: Wie keine unschuldige Religion, so gibt es auch keine unschuldige Nation.
Der tragische Konflikt Israel-Palästinenser
Der historischen Dimension großer Konflikte bin ich mir stets bewusst: Fast 1900 Jahre hat es gedauert, bis es wieder einen jüdischen Staat in Palästina geben konnte. Und so habe ich es ausdrücklich begrüßt, dass das Judentum – nach der Assimilation und dem Antisemitismus in der europäischen Moderne – mit der Staatsgründung in die Nach-Moderne eingetreten ist. Das heißt: das Zentrum des jüdischen Lebens wird aus Europa wieder ins »verheißene Land« des Anfangs zurückverlegt. Das Volk Israel erhält dadurch wieder die Möglichkeit zu staatlicher Selbstorganisation und politischer Selbstbestimmung. Keine Frage, dass das gesamte Judentum auch der Diaspora dadurch eine neue geistige Ausrichtung erfährt.
Aber der tragische Konflikt seit der Staatsgründung besteht darin: Palästina war nie, wie von Zionisten behauptet, »ein Land ohne Volk«. Und deshalb stehen sich seither zwei Völker gegenüber – das jüdische und das arabisch-palästinensische –, welche beide das seit 3000 beziehungsweise in den letzten 1000 Jahren tief eingewurzelte Bewusstsein haben, dass ihnen – und ihnen allein – dieses Land rechtmäßig gehört. Wer sich um ein gerechtes Urteil bemüht, wird beides sehen. Der 15. Mai 1948, der Tag der Staatsgründung für die Juden , ist für die Palästinenser »an-Nakba«, »die Katastrophe« .
Doch schon 1947/48 hatten es beide Parteien in der Hand, ihren je eigenen Staat zu gründen: einen jüdischen und einen arabischen, verpflichtet zu gegenseitiger Anerkennung und politisch-wirtschaftlicher Kooperation. Und es ist nicht zu leugnen, dass es damals vor allem die Araber sind, die sich einer Staatsgründung verweigern, irregeführt durch die Illusion, den vermeintlich schwachen Judenstaat schon bald nach der Gründung wieder beseitigen zu können. Damit aber kommen sie dem israelischen Staatsgründer DAVID BEN-GURION ungewollt entgegen, der seinerseits – auch dies steht historisch fest – auf ein »Großisrael«, also auf ein Israel mit Einschluss des Westjordanlandes und Gazas hinarbeitet. Zugleich liefern die Araber durch den von ihnen initiierten Krieg (15. Mai 1948 – 24. Februar 1949) den israelischen Truppen den Vorwand, die angstvolle Flucht und Vertreibung von
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