Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Sechstagekrieg begonnen, vor der sich anbahnenden gefährlichen Entwicklung zu warnen. Jetzt sagt er mir: »Der Sechstagekrieg war eine historische Katastrophe des Staates Israel.« »Warum?«, frage ich. Weil Israel, zuvor in Selbstverteidigung begriffen, seither die Hauptverantwortung dafür trage, dass es im Nahen Osten keinen Frieden gebe. »Tatsächlich sind wir es doch, die nicht zu Verhandlung und Teilung bereit sind.« 12 Ob das je eine israelische Regierung einsehen und eingestehen wird, frage ich mich im Jahr 2009 nach dem verbrecherischen Gazakrieg (13 tote Israelis, 1300 tote Palästinenser), der den Staat Israel auch bei seinen Freunden unglaubwürdig gemacht hat.
Schon früh sieht Leibowitz die verheerende Auswirkung der Besetzung palästinensischer Gebiete (noch immer vom laut verkündeten oder im Geheimen gehegten Traum eines Großisrael getragen) voraus: die Aufrichtung und Erhaltung einer Gewaltherrschaft über das palästinensische Volk . Konkret erwähnt er: lange Zeit Leugnung der Existenzberechtigung des palästinensischen Volkes, Herrschaft des israelischen Geheimdienstes, Missbrauch der Armee und der israelischen Jugend zur Besetzung fremden Landes. Und als Folge von alledem wachsender Verlust des internationalen Ansehens und zugleich der inneren Glaubwürdigkeit.
Ich muss gestehen: Diese verhängnisvolle Entwicklung des Staates Israel hat meine (und wahrhaftig nicht nur meine) Einstellung zur offiziellen Politik des Staates Israel grundlegend gewandelt: Zwar stehe ich nach wie vor entschieden für die Existenz des Staates Israel in sicheren Grenzen ein. Aber meine früher beinahe uneingeschränkte Bejahung der jeweiligen israelischen Regierungspolitik ist einer kritischen Einstellung gewichen, welche die Nationwerdung der Palästinenser und ihr nationales Selbstbestimmungsrecht ganz und gar ernst nimmt, ohne auch ihre Mitschuld an der verfahrenen Lage zu leugnen.
Immer mehr erscheint es mir als eine Tragödie von geradezu biblischem Ausmaß, dass dieses jüdische Staatsvolk, das zuvor mehr als jedes andere unter der Gewaltherrschaft eines »Herrenvolkes« gelitten hat, nun selber zu einer mitleidlosen Besatzungsmacht geworden ist, die, wie der frühere US-Präsident Jimmy Carter, Vermittler des Friedens zwischen Israel und Ägypten, feststellt, eine »Apartheidpolitik« betreibt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird diese sogar der ganzen Welt demonstriert durch eine Mauer nach kommunistischem Vorbild. Solche politisch völlig unsensible militärische »Sicherheitspolitik« hat Israel jedoch politisch, wirtschaftlich, militärisch und moralisch geschwächt. Und zugleich hat sie das (von den meisten Israelis bewusst ignorierte) unbeschreibliche Elend der Palästinenser ständig vergößert und hat nach den beiden vergeblichen Intifadas schließlich die sich steigernden Raketenangriffe und verzweifelten Selbstmordattentate der Palästinenser provoziert. Diese terroristischen Akte der Palästinenser sind Reaktion auf die Unterjochung und den Staatsterror Israels mit Flugzeugen, Panzern, Bulldozern und gezielten Morden – und nicht umgekehrt. Was den Terror nicht rechtfertigt – auf keiner Seite.
Doch auch Juden in aller Welt realisieren immer mehr: Militärische Gewalt, weder von der einen noch von der anderen Seite, kann dieses Problem nicht lösen. Im Jahre 2009 zählt die palästinensische Minderheit im Staat Israel bereits 22 Prozent der Bevölkerung – Tendenz steigend. Im größeren Israel (mit den besetzten Gebieten) aber besitzen die Palästinenser bereits jetzt die Mehrheit. Immer mehr steht deshalb Israel vor dem Dilemma, entweder eine multiethnische demokratische Gesellschaft oder ein nationaler jüdischer Sicherheitsstaat zu werden. Und zweierlei sollte dabei klar sein: Weder kann die israelische Militärpolitik die Palästinenser auf Dauer unter Kontrolle halten, noch können die Palästinenser die Rückkehr in ihre Wohngebiete vor 1948 erzwingen.
Doch was ist möglich und wünschenswert? Es könnten sich die Israelis aus den meisten besetzten Gebieten zurückziehen und einige Gebiete abtauschen und könnten zugleich durch Reparationszahlungen (wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg) das Unrecht an den vertriebenen oder unterdrückten Palästinensern wiedergutmachen: statt Milliarden für Rüstung zu verschleudern, ein Marshallplan für die Palästinenser und den Nahen Osten überhaupt! Oder ist die Hoffnung aufzugeben, dass die »Road Map« von UNO, USA, EU und
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