Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Russland endlich realisiert wird? Es wäre zu hoffen, dass mehr jüdische Persönlichkeiten auch in den USA und in der EU sich wie der große Dirigent DANIEL BARENBOIM mit seinem West-Eastern Divan Orchestra für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzen.
Umstritten: Geltung des Gesetzes und Status von Jerusalem
Für mich jedenfalls steht schon lange fest, dass eine Theologie der Versöhnung zwischen den drei abrahamischen Religionen die politische Versöhnung gerade zwischen Juden und Muslimen unterstützen muss. Ich führe dafür zwei Beispiele an:
Im Mai 1990 bin ich auf der Rückreise von Riad und Dschidda und nach einem Besuch bei Kronprinz Hassan von Jordanien erneut in Jerusalem. Am 18. Mai 1990 treffe ich mich mit Prof. EMIL FACKENHEIM zum Mittagessen. Er ist ein Spezialist für deutsche Philosophie, war im KZ Sachsenhausen, danach in Kanada als Emigrant und lehrt jetzt an der Hebrew University. Er betrachtet den Holocaust als einen Kontinuitätsbruch epochalen Ausmaßes für das Judentum. Doch kämpft er leidenschaftlich dafür, dass die Theologie nicht durch eine Holocaustologie ersetzt wird: Juden sollen am Glauben an Gott festhalten, um so Hitler und seinen Schergen nicht nachträglich zum Sieg zu verhelfen, dem von den Nazis gewollten Sieg von Nihilismus und Zynismus über die Würde des jüdischen Menschen.
Am Abend desselben Tages begehe ich mit dem Jerusalemer Bürgermeister TEDDY KOLLEK , seiner Frau und dem sympathischen orthodoxen Rabbi DAVID HARTMAN die Pessachfeier – eine große Ehre für einen christlichen Gast. Ich sagte ihm bei dieser Gelegenheit: Wenn Israel einmal einen Premierminister von der wachsenden Einsicht und Toleranz des gegenwärtigen Bürgermeisters Kollek hätte, dann wäre man über den Berg und könnte eine versöhnliche Lösung auch für das schwierige Problem des Status von Jerusalem finden.
Vom 9. bis 13. Januar 1993 bin ich erneut in Jerusalem, dieses Mal für eine internationale theologische Konferenz unter der Schirmherrschaft von Teddy Kollek, auf Einladung David Hartmans und seiner Shalom Hartman Foundation for Advanced Jewish Studies. Wiewohl im orthodoxen Milieu New Yorks aufgewachsen und ausgebildet, verbindet er sein Bemühen um eine jüdische Identität in Israel und in der Diaspora mit dem Bemühen um eine mehr pluralistische, tolerante und aufgeklärte israelische Gesellschaft. In seiner Gesetzestheologie (»A Living Covenant«) verbindet er Gottes unumstößliches Gebot mit der intellektuellen Freiheit, das Gesetz zu interpretieren. Ich finde mich deshalb ermutigt, in meinem Vortrag ein hochdiffiziles Thema aufzugreifen, das selten behandelt wird: »Paulus und das Gesetz« . Ich mache deutlich, dass Paulus die Tora als Sittengesetz und die Gebote des Dekalogs durchaus akzeptiert, dass er aber mit absolut gesetzten Geboten des Zeremonialgesetzes grundsätzliche Schwierigkeiten hat. Meine Ausführungen werden von den jüdischen Teilnehmern, die allerdings mit paulinischer Theologie wenig vertraut sind, freundlich aufgenommen.
Auf Schwierigkeiten stoße ich mit meinem zweiten Vortrag in einem öffentlichen Symposion über Jerusalem , wo ich zum aktuellen Status von Jerusalem Stellung nehme. In der ersten Reihe sitzt neben David Hartman TEDDY KOLLEK: In Wien aufgewachsen, lebt er seit 1935 in Israel und war von 1965 bis 1993 Bürgermeister von Jerusalem. Er machte aus Jerusalem eine moderne Stadt und engagierte sich stark für ein friedliches Nebeneinander der Religionen in der »Heiligen Stadt«. Die Lösung des Problems Jerusalem sehe ich auf der Linie des großen Streites um Rom zwischen dem Papst und dem jungen italienischen Königreich im 19. Jahrhundert. Die Lösung bestand damals darin, dass Rom eine Stadt unter einer Verwaltung blieb, aber mit zwei Flaggen, zwei Souveränitäten oder Oberhoheiten, der päpstlichen und der italienischen. So sollte es auch in Jerusalem möglich sein: in der einen Stadt und der einen Verwaltung zwei Flaggen und zwei Souveränitäten. Die Regierungszentren beider Nationen aber wären außerhalb der symbolisch bedeutsamen Jerusalemer Altstadt und ihrer Mauern: Die israelische bliebe im jüdischen Viertel, wo sie zurzeit ist, die palästinensische würde im arabischen Neu-Jerusalem entstehen oder aber in Ramallah.
Meine Rede erregte an diesem Punkt Teddy Kollek, sodass er sich gleich zu Wort meldete und betonte, Jerusalem müsse jüdisch bleiben. Dieser Dissens konnte nicht weiter
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