Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
850.000 Palästinensern aus ihren angestammten Gebieten in die angrenzenden arabischen Staaten zu befördern. Aber wenn für die ersten zwei Jahrzehnte des Konflikts die Hauptverantwortung für das Nichtzustandekommen einer friedlichen Lösung bei den Arabern liegt, dann nach dem Sechstagekrieg von 1967 (5.–11. Juni) zweifellos bei den Israelis, jetzt die stärkste Militärmacht des Nahen Ostens, welche eine ausgleichende Lösung des Konflikts immer wieder planmäßig hintertreiben.
1967 besuche ich, wie berichtet, das erste Mal Jerusalem, wenige Wochen vor dem Sechstagekrieg. Seither stehen ganz Jerusalem und das Westjordanland unter israelischer Besatzung. Zu dieser Zeit stehe ich noch ganz auf der Seite des bedrohten Israel. 1978 aber bin ich vom 23. September bis 7. Oktober auf einer Studienreise mit der Katholischen Fakultät Tübingen erneut in Israel: Inzwischen hat sich die politische Lage grundlegend geändert.
Ein Jahrzehnt nach dem Sechstagekrieg ist der Konflikt mit der früheren Bevölkerung dieses Landes, den Palästinensern, noch immer nicht geregelt. Zwei Völker erheben (begründeten) Anspruch auf ein und dasselbe Land. Israel hat 1967 die historische Chance verpasst , aus einer Position der Stärke heraus im Austausch gegen die besetzten Gebiete einen wirklichen Frieden zu erreichen und an der Errichtung eines friedlichen unabhängigen arabischen Staates Palästina mitzuarbeiten. Damit ist Israel zur Besatzungsmacht geworden, ab jetzt hauptverantwortlich für das Ausbleiben des Friedens im Nahen Osten. Der Jom-Kippur-Krieg vom 6. bis 25. Oktober 1973, mit einem erfolgreichen Überraschungsangriff von Ägypten und Syrien begonnen, wird durch einen unter dem Druck der USA erreichten Waffenstillstand gestoppt, der dann 1974 zu einem Truppenentflechtungsabkommen mit Ägypten und Syrien führt. Vor allem wegen der Spannungen aufgrund der umstrittenen jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten aber wird die Arbeitspartei-Regierung abgewählt und durch die des konservativ-nationalen Likud-Blocks mit dem früheren Terroristen MENACHEM BEGIN als Ministerpräsident ersetzt.
Im November 1977 aber ergreift der ägyptische Präsident ANWAR AS-SADAT eine kühne Initiative: Er besucht für drei Tage Jerusalem – in der Hoffnung auf eine Rückgabe aller besetzten Gebiete um eines Friedens mit den Arabern willen. Doch dies wird von Begin abgelehnt. Nur durch Einschaltung der Amerikaner kommt es, drei Jahrzehnte nach der Staatsgründung, am 17. September 1978 zum Camp-David-Abkommen zwischen Ägypten und Israel. Es ist das Verdienst des amerikanischen Präsidenten JIMMY CARTER , eines überzeugten Christen. Am 26. März 1979 endlich schließt Israel, wiederum durch persönlichen Einsatz Jimmy Carters, mit Ägypten einen Friedensvertrag, der zum Rückzug Israels aus dem Sinai führt. Aber die Hauptfrage, die Palästinenser-Frage, wird nicht in die Lösung einbezogen, und so kommt es noch immer nicht zu einem umfassenden Frieden.
Die militärische Lage im Nahen Osten bleibt unstabil, und Israel erfüllt kaum eines der vertraglich zugesicherten Versprechen bezüglich der palästinensischen Autonomie. Die Terroraktionen, jetzt der Palästinenser, gehen weiter, und nach einem palästinensischen Busüberfall bei Tel Aviv mit 45 Todesopfern besetzen die israelischen Streitkräfte wider alles Völkerrecht den ganzen Libanon (15. März bis 13. Juni 1978), in dessen Hauptstadt Beirut sich das Hauptquartier der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) befindet. Präsident Sadat aber wird am 6. Oktober 1981 von einem islamischen Fundamentalisten ermordet. Und was wird die Zukunft bringen?
Es ist zunächst der österreichische Bundeskanzler BRUNO KREISKY , selber jüdischer Herkunft, der mir während meines Skiurlaubs in einem langen Abendgespräch zu zweit am Silvesterabend 1978 in der »Post« in Lech am Arlberg deutlich macht, ich dürfe die brisante Situation im Nahen Osten nicht allein aus israelischer Perspektive sehen, sondern müsse auch die Araber verstehen lernen (Bd. 2, Kap. IX: Bundeskanzler Kreisky).
Versöhnung statt Gewaltherrschaft
Noch mehr lerne ich anlässlich eines erneuten Besuchs in Jerusalem am 31. Oktober 1990 vom berühmten jüdischen Gelehrten deutscher Herkunft JESCHAJAHU LEIBOWITZ , Professor an der Hebräischen Universität. Er hatte sich vor 40 Jahren als überzeugter Zionist in Israel angesiedelt und im Unabhängigkeitskrieg mitgekämpft, aber schon nach dem
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