Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
getragen von der Vision, dass wir alle auf einen gemeinsamen ethischen Nenner zusammenfinden mögen. Ihr Mut, auch ›Unbequemlichkeiten‹ auszusprechen, ohne vor den Konsequenzen zu scheuen, beeindruckt und berührt mich sehr.«
Keine unschuldige Nation
Nach dem Menschheitsverbrechen des Holocausts, dessen Einzigartigkeit nie infrage gestellt werden darf, fand ich es als Schweizer Bürger, seit 1960 in der Bundesrepublik Deutschland ansässig, bewundernswert, wie man in diesem Land die antisemitische Vergangenheit zunehmend schonungslos aufarbeitet. Erst später wird auch in der Schweiz die NS-Vergangenheit kritisch thematisiert, wo ich persönlich zwar nie einen Nazifreund und Judenhasser kennengelernt habe und während des Zweiten Weltkriegs etwa 60.000 Flüchtlingen, darunter große Persönlichkeiten aus deutscher Literatur, Kunst und Kultur, Schutz geboten wurde. Aber aus Angst vor Hitlers Zorn und einer ständig drohenden Invasion hatte man ab 1942 eine höchst restriktive Asylpolitik betrieben. 9751 Flüchtlinge mit dem »J-Stempel« im Pass waren zurückgewiesen und Ungezählte von vornherein abgeschreckt worden. Gefälligkeiten der Schweizer Nationalbank im Finanztransfer und der Zollbehörden bezüglich deutscher Rüstungstransporte nach Italien werden erst nach dem Krieg bekannt. Somit kein Anlass zu schweizerischer Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit.
Aber auch in den USA stelle ich fest, wie lange selbst dort die Mitschuld an der Katastrophe des jüdischen Volkes ignoriert und verdrängt worden war. Erst 1984 alarmiert der jüdische Autor DAVID S. WYMAN mit seinen reich dokumentierten Untersuchungen unter dem Titel »The Abandonment of the Jews« (in der deutschen Ausgabe »Das unerwünschte Volk«, 1986) die amerikanische Öffentlichkeit. Wyman weist auf, wie amerikanische Regierung und Kongress, aber auch Medien, Kirchen und Gewerkschaften angesichts der nazistischen Verfolgungs- und Ausrottungsmaßnahmen in den 30er- und 40er-Jahren versagt haben: aus politischem Opportunismus, allgemeiner Einwanderungsfeindlichkeit und traditionellem Antisemitismus. Selbst die jüdischen Hilfsorganisationen der USA waren erst relativ spät in Aktion getreten. Als ich Jahrzehnte später immer mehr Holocaust-Denkmäler in amerikanischen Städten entstehen sehe, kann ich jene Amerikaner verstehen, die darin späte Satisfaktionsmaßnahmen aufgrund schlechten Gewissens und zugleich politische Unterstützungsaktionen für Israel sehen. Auch südamerikanische Staaten , auch Großbritannien , Kanada und Australien hatten damals keine jüdischen Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Merkwürdige Entdeckungen mache ich bei einer Informationsfahrt durch Polen im August 1990. Schon vorher war mir bekannt, dass auch im Vorkriegs-Polen der religiös begründete Antijudaismus, ja der rassistische Antisemitismus, tief verwurzelt war. 1936 hatte der Primas von Polen, Kardinal AUGUST HLOND , einen Hirtenbrief veröffentlicht, der antisemitische Passagen enthielt, die vom Nazipropagandaminister Joseph Goebbels hätten stammen können. Auch andere Hirtenbriefe und Stellungnahmen von polnischen Bischöfen hatte es gegeben, die vor dem bedrohlichen Einfluss der Juden warnten.
Bei meinem Besuch im Stadtmuseum von Warschau stelle ich fest: Auf der riesigen Stadtkarte wird mit keinem Zeichen auf das frühere Judenviertel hingewiesen. Dabei gab es in Polen 1939 rund 3,5 Millionen Juden, in Warschau war es fast ein Drittel der Bevölkerung, aber ihre Existenz und Geschichte wird in diesem Museum verschwiegen. Ich besuche den Vorsitzenden des Jüdischen Koordinationskomitees in Polen, Dr. PAWEŁ WILDSTEIN, in seinem armseligen Quartier und vernehme von ihm, dass heute nur noch 8000 bis 10.000 Juden in Polen leben und ihre Situation alles andere als rosig ist.
Auch nach dem Krieg war der Antijudaismus in Polen so stark wie eh und je gewesen. Gerade in Krakau und Kielce kommt es 1945/46 zu Pogromen, allein in Kielce sind es über 40 Ermordete, ohne dass kirchliche Autoritäten dagegen öffentlich Stellung bezogen hätten. Eine Massenflucht von ungefähr 80.000 polnischen Juden nach Westen ist die Folge. Auch der im Pogromjahr 1946 in Krakau zum Priester geweihte KAROL WOJTYŁA , später Erzbischof und Papst, hat zwar bei der UNO-Versammlung 1979 dramatisch, aber recht allgemein »Auschwitz« beschworen (ich besuche auf meiner Informationsfahrt das nur 50 Kilometer westlich von Krakau gelegene Vernichtungslager der Nazis, in
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