Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
bis in die Neuzeit hinein ausgebeutet vor allem durch Sklavenhandel. Doch die Leidensgeschichte Afrikas wird bis nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach von uns Europäern nicht als solche wahrgenommen. Das ändert sich erst im Zuge der Entkolonialisierung nach 1945, als Afrika zunehmend politisch-wirtschaftlich wichtig wird, nicht zuletzt als Terrain für Stellvertreterkriege der beiden Supermächte USA und UdSSR: Durch Massenmedien, Tourismus und afrikanische Studenten in Europa bricht danach eine enorme Fülle an Informationen zu den rund 50 in kurzer Zeit unabhängig gewordenen Staaten über uns Europäer herein. Die anfängliche Afrikabegeisterung schlägt allerdings vielfach in Afrikamüdigkeit um. Heute reizt der rohstoffreiche Kontinent nicht mehr zum militärischen Intervenieren, sondern vielmehr zum ökonomischen Investieren. Chinesen haben dies in den letzten Jahren wirksamer praktiziert als Europäer und Amerikaner, deren Verhalten viele Afrikaner enttäuscht hat.
Afrika: ein Kontinent mit schon damals über 400 Millionen Menschen verschiedener klimatischer Zonen, Rassen, Sprachen und Ethnien. Und doch – anders als in Indien, das ähnlich reich ist an Menschen, Sprachen und Völkern: nirgendwo in Afrika ist eine universale Hochreligion ursprünglich beheimatet, nirgendwo eine autochthone Buchreligion entstanden, nirgendwo ein religiöses Dokument, auf welchem sich eine Religion hätte gründen können – abgesehen von der regional begrenzten Hochreligion Ägyptens. Stattdessen scheint sich die traditionelle afrikanische Religiosität auf »Naturreligionen« oder »Stammesreligionen« beschränkt zu haben, die aus der Prähistorie bis in unsere Gegenwart reichen. Von verschiedenen, archäologisch, schriftlich oder historisch dokumentierbaren Paradigmen, wie wir sie im Zusammenhang von Judentum, Christentum und Islam entwickelt haben, wird man innerhalb der afrikanischen Religionen nicht reden können.
Afrika – lese ich in Hegels »Philosophie der Weltgeschichte« – sei also »kein geschichtlicher Weltteil«, weil er »keine Bewegung und keine Entwicklung aufzuweisen« habe. Hegel in Ehren, aber das Gegenteil ist wahr und heute auch erwiesen. Jedoch noch ist Europäern viel zu wenig bewusst: Als unsere germanischen Vorfahren noch in urgesellschaftlichen Zuständen lebten und unter primitivsten Bedingungen weit entfernt von unseren heutigen Wohngebieten ihr Leben fristeten, da hat es in Afrika schon hoch entwickelte Kulturen und Staaten gegeben, die eine Geschichte durchgemacht hatten. Auch das Niltal gehört zu Afrika!
Ägypten – eine frühgeschichtliche Hochkultur
Im Februar 1980 ist mein großer Wunsch endlich in Erfüllung gegangen: das alte Ägypten kennenzulernen – auf einer schon lang zuvor vereinbarten Studienreise mit meinen Kollegen der Katholisch-Theologischen Fakultät, und das in der Endphase des Kampfes um meine kirchliche Lehrbefugnis (Bd. 2, Kap. XII: Nicht das Ende). Das alte Ägypten mit seinen Pyramiden, Tempeln, Gräbern, sonstigen Monumenten und dem überreichen Kairo-Museum, der Flug ins oberägyptische Assuan am ersten »Katarakt« (Granitschwelle) des Nil und dem Nasser-Staudamm sowie zu der auf einer Nachbarinsel hochwassersicher wieder aufgebauten Tempelanlage von Philä. Und von dort in einem Autobus zu den alten Tempelstätten von Luxor und Theben, dann nach Dendera, Abydos und Karnak: alles einzigartige, unvergessliche Erlebnisse. Wer wäre nicht fasziniert von dieser Hochkultur, die sich da seit den ersten beiden Dynastien (etwa 3000 bis 2780 v. Chr.) entwickelt hat, durch Stelen, Täfelchen und Siegel bezeugt, und der wir die Erfindung der Schrift und Formung des historischen Bewusstseins verdanken?
Natürlich stellen sich auf einer solchen Reise – abgesehen von allen archäologischen und kunstgeschichtlichen Fragen – an nachdenkliche Christenmenschen, nicht nur Theologen, auch sehr herausfordernde theologische Fragen. Unser glänzender Reiseführer, Professor HELMUT BRUNNER , ein Tübinger Kollege und führender Ägyptologe seiner Zeit, zögert auch nie, sie uns zu stellen und die Diskussion anzuregen über Fragen, die mich auch in der Folgezeit beschäftigen sollten:
Wer war eigentlich » Mose« : ein Mann mit ägyptischem Namen, in Ägypten geboren, aber vermutlich Semit, der in der Wüstensiedlung Midian (im heutigen Saudi-Arabien) eine Frau heiratete und dort auch seine entscheidende Begegnung mit dem Gott Jahwe hatte – was war seine Funktion und
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