Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
sie keine Vorstellung. Doch in FRIEDRICH HEYERS Standardwerk »Die Kirche Äthiopiens« (1971) lese ich nach meiner Reise: »Die zahlreichen judaisierenden Züge der äthiopischen Orthodoxie müssen ein mit den Falasha gemeinsames vorchristliches Erbe sein oder aus späterem Austausch stammen.« Karawanenwege von West nach Ost gab es jedenfalls viele, und wie die äthiopische Küste von Südarabien aus besiedelt wurde, so herrschte bisweilen das äthiopische Aksum über einen Teil der Arabischen Halbinsel. Aus dem Bericht des Rufinus geht hervor, dass schon vor der Duldung des christlichen Kultus in Äthiopien eine kleine christliche Gemeinde bestanden hat.
Auf eine höchst aufschlussreiche Bestätigung der Vermutung eines untergründigen, überlagerten judenchristlichen Paradigmas in Äthiopien stoße ich dann in einem Buch des Harvard-Professors EPHRAIM ISAAC mit dem zunächst rätselhaften Titel »A New Text-Critical Introduction to Mashafa Berhan« (1973). Aus dem bedeutenden äthiopischen »Buch des Lichtes« (15. Jh.) schließt der Gelehrte, dass es noch im 13. Jahrhundert in Äthiopien zwei Fraktionen gegeben habe: die Partei der judaisierenden Christenheit und ihre Opposition, die Partei der koptischen Monophysiten, die beanspruchten, authentisch »orthodox« zu sein. Heute bestimmt eine durch und durch monophysitische Theologie und Liturgie das ganze Leben der Kirche Äthiopiens.
Durch Vermittlung des angesehenen Schweizer Botschafters Dr. FRANZ BIRRER in Addis Abeba, dessen Äthiopisch sprechende Frau etwa 20 wichtige Frauen der Hauptstadt zum Kaffee mit mir eingeladen hatte, werde ich 1986 vom Patriarchen, Abuna(Bischof) TEKLE HAIMANOT, und seiner ganzen Entourage feierlich und freundlich im Patriarchat empfangen. Ich habe Verständnis für seine sehr prekäre Lage unter dem gegenwärtigen sozialistischen Regime in Äthiopien: Christentum und Königtum waren ja hier jahrhundertelang, in gut byzantinischer Harmonie, Verkörperungen des »heiligen Reiches«. Zweifellos hatte die orthodoxe äthiopische Kirche nicht wenig zur Stabilisierung des feudalen Regimes nach innen und außen beigetragen, besonders seitdem sie durch Kaiser MENELIK II. (1889 – 1913) fest in dem Staatsverband verankert und zur tragenden Säule, ja zum Garanten des staatlichen Machtanspruches des Kaiserhauses geworden war. Aber, diese Frage stellt sich natürlich auch, hatten die Verfestigung der Kirche im hellenistisch-äthiopischen Paradigma und die konservative Erstarrung des Kaisertums nicht langfristig auch fatale Folgen?
Zwar war Äthiopien in der Neuzeit der einzige afrikanische Staat, der nie eine europäische Kolonie wurde. Ja, die Kirche Äthiopiens blieb bis ins 20. Jahrhundert Symbol einer von Mission und Kolonialismus unabhängigen autochthonen schwarzafrikanischen christlichen Kirche; sie hatte noch 1895 kräftig mitgeholfen, die waffentechnisch überlegenen Italiener vernichtend zu schlagen. Aber die zunehmende Stagnation in Kirche und Staat – verbunden mit der Isolation der Kirche nach außen – führt jene Umwälzung herauf, die der Krise der russisch-orthodoxen Kirche nicht unähnlich ist: Im Jahr 1974 kommt es in Äthiopien zu einem Staatsstreich durch linke Offiziere und zum Sturz des Kaisers HAILE SELASSIE . Dieser Putsch hatte für die Kirche ähnliche Folgen wie die russische Revolution: Verlust regelmäßigen Einkommens infolge der Enteignung der Kirchengüter und finanzielle Abhängigkeit vom Staat; Inhaftierung und rätselhaftes Verschwinden des politisch rechts engagierten Patriarchen, Abuna THEOPHILOS ; Einfluss der Militärregierung auf die Personalpolitik der orthodoxen Kirche, die zur Wahl eines neuen Patriarchen führt, neben dem der vom Staat bestimmte, stets regierungsfreundliche Generalsekretär der orthodoxen Kirche die eigentliche Macht ausübt.
Auf diese Weise wird die äthiopische Kirche plötzlich mit der Moderne konfrontiert. Die neue sozialistische Regierung gewährt umgehend volle Glaubensfreiheit. So hatte ich denn Gelegenheit zu Vorträgen und eingehenden Gesprächen mit den Häuptern der verschiedenen Kirchen: mit dem Erzbischof der griechisch-orthodoxen Kirche, dem päpstlichen Pro-Nuntius, dem Präses der lutherischen Kirche, dem Repräsentanten der anglikanischen Kirche, den Vorstehern von neuen Kirchen …
Die Religionsfreiheit ermöglicht freilich auch die weitere Verbreitung des Islam. Rangierte um 1990 die muslimische Bevölkerung mit 40 Prozent noch nach der
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