Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Jahres, der Epiphanie, eintreffen! Voller Staunen sehe ich dort in und um die Dreifaltigkeitskirche – trotz des herrschenden marxistisch-leninistischen Systems von MENGISTU HAILE MARIAM (der 1974 Kaiser Haile Selassie gestürzt hatte) – Zehntausende betender Gläubigen.
Gewundert hat mich nicht so sehr dieser öffentliche Gottesdienst ganz in der Nähe eines überdimensionalen Lenin-Denkmals. Erstaunt hat mich in erster Linie die Zeremonie, die im Mittelpunkt der Feier steht: die Verehrung des vom Klerus durch das Volk getragenen, aber mit kostbarem Tuch bedeckten Tabots , der Bundeslade des Mose mit den Zehn Geboten, auf der Rückseite als Ergänzung sechs aus Mt 25 entnommene Gebote des Neuen Testaments, die nach der Überlieferung Jesus selbst in den Urtabot eingeritzt haben soll. Man erklärt mir: Jede orthodoxe Kirche Äthiopiens (rund 13.000 an der Zahl) hat einen Tabot, der die unabdingbare Voraussetzung ist für die Feier der Liturgie. Denn auf einem Tabot – ihm ist die jeweilige Kirche geweiht – wird die Eucharistie vollzogen. An großen Feiertagen wird er in Prozessionen dreimal um die Kirche getragen und besonders von den Frauen mit hohem afrikanischem Zungenjubilieren, dem Gezwitscher eines riesigen Vogelschwarmes gleich, enthusiastisch begrüßt.
Doch dies ist nur eines der vielen Zeichen für das, was mir das Eigenartige und so gar nicht Griechische oder Lateinische dieses Christentums auszumachen scheint: In Äthiopien werden von den Priestern nicht nur immer wieder die Psalmen gesungen, sondern wird auch vor der Bundeslade unter Trommel- und Trompetenbegleitung getanzt , und es werden besondere Fasten- und Speisevorschriften beachtet, vor allem das Verbot des Schweinefleischessens.
Kurz: In Äthiopien scheint mir hinter der Fassade eines alexandrinisch-griechischen Christentums, das erst in den letzten 150 Jahren seine Macht auch über die ursprünglichen semitischen Stämme auszudehnen vermochte, ein Judenchristentum eigener Art zu begegnen. Dies würde erklären, dass die Liturgie in der altäthiopischen Kirchen- und Literatursprache, dem Ge’ez, gefeiert wird, das eine semitische Sprache ist, deren Ursprünge im Südarabischen liegen. Sabäisch-semitisch ist die gesamte alte Schriftkultur Äthiopiens. Ge’ez ist schon die Sprache des Reiches von Aksum , jener Stadt in Nordäthiopien westlich des Roten Meeres, in der sich nach äthiopischer Überlieferung noch heute, und zwar im Allerheiligsten der Kirche der Heiligen Maria von Zion, der Urtabot, die echte Bundeslade mit den Gesetzestafeln des Mose aus dem Tempel von Jerusalem, befinden soll.
Ich wundere mich: die israelitische Bundeslade in Afrika? Der äthiopischen Überlieferung zufolge hatte die Königin von Saba mit König Salomon von Juda (ca. 1000 v. Chr.) einen Sohn: MENELIK , der erste König von Äthiopien. Dieser soll später bei einem Besuch in Jerusalem die Gesetzeslade des Mose entführt und auf einer Insel des Tanasees, des größten Sees von Äthiopien, vergraben haben, bis sie 600 Jahre später nach Aksum überführt worden sei. Aksum aber ist jenes Reich, das im ersten Jahrtausend vor Christus, sabäischen Inschriften zufolge, von südarabischen Kolonisten begründet wurde und ab 100 n. Chr. ein halbes Jahrtausend lang eine solche Blütezeit erlebte, dass es eine zeitlang unter die vier wichtigsten Reiche der Welt gezählt wurde. Die vorchristliche Periode Aksums gilt den Äthiopiern als die Zeit des Alten Testaments.
Für mich aber ist wichtig, was sich keinesfalls bestreiten lässt: Sowohl in der Legende wie in der Historie zeigen zahlreiche Linien von Äthiopien über das nahe Arabien hin nach Jerusalem. Aus ältester Zeit finden sich in Äthiopien bis auf den heutigen Tag auch jüdische Gemeinden (Juden = Falasha , mit Verzweigungen in den USA und Westindien), die vor urdenklicher Zeit hierhergekommen waren. Da frage ich mich: Hat es in Aksum und in Äthiopien vielleicht schon vor der Ankunft jener zwei schiffbrüchigen Laien aus Syrien, Frumentius und Ädesius, die im 4. Jahrhundert ohne priesterliche Ordination die äthiopische Kirche begründet haben sollen, so etwas wie ein vorhellenistisches Christentum gegeben, das letztlich judenchristliche Wurzeln hat?
Diese historische Frage liegt natürlich außerhalb des Horizonts der ganz von der griechisch-alexandrinischen (»monophysitischen«) Tradition bestimmten orthodoxen Autoritäten, die ich in Äthiopien treffe. Von einem Judenchristentum hatten
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