Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Theologie entschloss, standen mir vor allem junge Menschen vor Augen. Dieser seelsorgliche, »pastorale« Impuls einer »Theologie für die Menschen« (Bd. 1, Kap. IX: Bei Paul VI.) bleibt Hauptmotivation meines Schaffens.
Natürlich ist ein solcher Impuls auch anderen Theologen eigen. Mit der weiteren Ausdehnung meines christlichen Interesses und Wirkkreises weit über die Kirchen hinaus war allerdings wie von selbst ein weiterer hinzugekommen, was ich etwas hochgestochen als »humanitären« Impuls bezeichnen könnte. Ich meine damit: Ohne je meine christliche Grundüberzeugung aufzugeben, ließ ich mich zunehmend auf die großen Anliegen der »Menschheit« mit ihren verschiedenen Religionen und Kulturen ein, dabei immer deutlicher »Menschlichkeit« als Ziel und Norm.
Doch kommt bei alldem ein wichtiger »psychologischer« Impuls hinzu, der mir hilft, so viele Jahrzehnte durchzuhalten. Es bereitet mir einfach Freude, immer weitere Bereiche und Felder, Länder, Religionen und Kulturen kennenzulernen. Aber auch ihre Heiligen Schriften und ihre Denker, um Meisterdenker in Person und Werk miteinander ins Gespräch zu bringen. Nicht nur die großen Theologen: von Origenes und Thomas von Aquin über Luther und Calvin bis zu Schleiermacher und Karl Barth, sondern auch die großen Philosophen insbesondere der Neuzeit: von Descartes und Pascal über Hegel, Feuerbach und Marx bis zu Nietzsche, Freud, Sartre und Popper. Schließlich immer mehr auch die bedeutenden geistigen Repräsentanten anderer Religionen wie Moses Maimonides oder Moses Mendelssohn im Judentum, al-Gazzali oder Ibn Haldun im Islam, oder später im Hinduismus Shankara oder im Buddhismus Nagarjuna …
Wie viel hätte man doch erreichen können, wenn ich auf meinem Weg die kreative Unterstützung auch nur einiger meiner kenntnisreichen Kollegen der beiden theologischen Fakultäten erhalten hätte! Man sollte hier nicht von vornherein Desinteresse oder »invidia clericalis vel academica«, klerikalen oder akademischen Neid, vermuten, zumal ich ja mit einigen Kollegen herzliche persönliche Beziehungen unterhalten habe. Aber sich einzulassen auf andere Religionen und andere Fachgebiete erfordert nun einmal außergewöhnliche intellektuelle Anstrengungen und bisweilen auch die Bereitschaft, auf diesem Weg Konflikte in Kauf zu nehmen.
Dabei hatte ich ungezählte Autoren zu studieren oder zu konsultieren. Meinen Lesern muss ich so in meinen Büchern – ich habe ja nie beabsichtigt, Bestseller zu schreiben – einiges abverlangen. Als Autor sei ich nicht nur unbequem und unkompliziert, sondern aufgrund der unerschöpflichen Mühe des Suchens, Studierens, Analysierens und Vermittelns »vor allem anstrengend«. So schrieb in einem Kurzporträt vor meinem 80. Geburtstag mein Schüler, Kollege und Freund KARL-JOSEF KUSCHEL und fügte hinzu: »Mühe? Nein, es ist die schiere Lust an der systematischen Erkenntnis, die das Denken von Küng vorantreibt, das Vergnügen am geordneten Denken in der wirren Vielfalt der Phänomene, welches das Erbe von einst immer wieder als Auftrag für heute begreift. Von seinem Medienimage her mag Küng als ein Kurzstreckenläufer des Zeitgeschmacks erscheinen. Von seinem wissenschaftlichen Werk her ist er ein Langstreckenläufer des Geistes, ein Mann mit langem Atem, konsequentem konzeptionellem Denkvermögen und ungewöhnlicher kreativer Arbeitskraft.«
Ich weiß nicht, welche Anforderungen auf meinem Denkweg größer waren, die des Anfangs oder die des Endes. Jedes Jahrzehnt hat seine eigenen brennenden Fragen. Jedenfalls eröffnen sich mir schon in den 1980er-Jahren noch ganz andere Dringlichkeiten und Möglichkeiten.
Für kritische und selbstkritische Rationalität
Im Jahr 1979 stand ich unerwarteterweise unter kritischem Beschuss von zwei entgegengesetzten Seiten: von römischen Infallibilisten rechts und von Kritischen Rationalisten links. Unmittelbar vor der großen Konfrontation mit Rom wegen der päpstlichen Unfehlbarkeit wird eine Schrift gegen »Existiert Gott?« veröffentlicht: vom Sozialwissenschaftler HANS ALBERT . Vielfach als Statthalter von Sir KARL R. POPPER in Deutschland apostrophiert, hat er dessen Kritischen Rationalismus auf sozialwissenschaftlichem und wissenschaftstheoretischem Gebiet weiterentwickelt.
Ich habe in »Existiert Gott?« die Anliegen des Kritischen Rationalismus nachweisbar ernst genommen. Im Sommersemester 1977 hatte ich mit dem Philosophen LUDGER OEING-HANHOFF noch im Rahmen der
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