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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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Imperialismus wurde abgelöst durch eine polyzentrische Welt.
    – Die modernen Freiheitsbewegungen, die sich bereits im 19. Jahrhundert ankündigten und zwischen den Kriegen erstarkten, sind nach dem Zweiten Weltkrieg auf breiter Basis durchgebrochen: Der Kampf richtet sich nicht nur gegen Kolonialismus und Imperialismus, sondern auch gegen Rassismus, Sexismus und ungerechte soziale Strukturen, um so Frauen, Farbigen und der Dritten Welt mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
    – Die Mächte der Neuzeit – Wissenschaft, Technologie und Industrie – sind wegen zahlloser verheerender Folgen vielfach fragwürdig geworden. Um der Menschlichkeit des Menschen willen und um der Bewohnbarkeit der Erde willen müssen sie sich neu in Verantwortung an ethischen Maßstäben ausrichten.
    – Manche alternative Bewegungen – von der Umweltbewegung bis zur Friedensbewegung – scheinen in mancher Hinsicht eine weniger materialistische und mehr holistische, gesamtheitliche Weltsicht anzukündigen.
    – Der von vielen verehrte große Gott der Moderne, »Fortschritt« genannt, wurde als falscher Gott entlarvt, seine Doppelgesichtigkeit wurde angesichts katastrophaler negativer »Nebeneffekte« offenbar, und der Ruf nach dem wahren Gott ist wieder laut geworden, und dies nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam.
    Die neue welthistorische Konstellation stellt für jede Theologie eine ungeheure Herausforderung dar, besonders aber für die römische, die heutzutage noch nicht einmal die Desiderate der Moderne (Naturwissenschaft, Demokratie, Menschenrechte, Toleranz …) voll integriert hat und jetzt auch noch den Anforderungen des neuen nach-modernen Paradigmas genügen sollte. Die kritischen Desiderate der Moderne dürfen gerade in der Theologie keinesfalls übergangen werden: Allzu gerne (und wenig ehrlich) reichen manchmal Vertreter des mittelalterlich-gegenreformatorisch-antimodernistischen Paradigmas in ihrer Vernunft- und Aufklärungskritik den Vertretern des nach-modernen Paradigmas die Hand! Doch die »Aufklärung« darf nicht rückgängig gemacht beziehungsweise übersprungen werden. Sie muss vielmehr vollendet werden: durch eine über ihre Leistungsfähigkeit und Grenzen aufgeklärte Aufklärung, welche Religion nicht mehr wie in der Moderne zunehmend ignoriert, verdrängt oder gar unterdrückt, sondern auf neue Weise kritisch integriert.
    Wenn nicht alles täuscht, stehen wir seit den 80er-Jahren mitten im Prozess der Wiederentdeckung von Religion weltweit – nicht zu verwechseln mit dem politischen Konservatismus eines Präsident Reagan oder einer Premierministerin Thatcher, die in den 80er-Jahren den wuchernden Sozialstaat zugunsten der individuellen Initiative zurückdrängen wollten, die aber zugleich jene verhängnisvolle Deregulierung der Bankenwelt einleiteten, die in unseren Tagen beinahe zum Kollaps des Weltfinanzsystems geführt hat. Es geht dabei nicht nur um die Rolle des Staates und der individuellen Freiheit, sondern um die Frage nach der Qualität des Lebens überhaupt, welche die Ökonomie übersteigt und zu tun hat mit einem sozialen Erwachen: der Emanzipation der Frauen, der Stärkung der Nachbarschaftlichkeit, des zivilen sozialen Engagements, der Gemeinschaft. Religion hatte sich ja in den oft widersprüchlichen Entwicklungen der Moderne als resistenter erwiesen, als Kulturdiagnostiker aller religionskritischen Schattierungen wahrhaben wollten. Die Theologie aber hat in der neuen geistesgeschichtlichen Situation nur dann eine Chance, wenn sie für die neue Welt-Zeit eine zeitgemäße realistische Vision entwickelt, die besonders von der jungen Generation, welche viele traditionelle Dogmen, Moralgebote, Strukturen nicht mehr kennt oder nicht mehr anerkennt, verstanden werden kann.
    So mache ich denn als Theologe unter erschwerten Bedingungen weiter, sogar mit gesteigerter Energie. Aber was treibt mich eigentlich an?
    Was mich antreibt
    So werde ich vor allem von Journalisten gefragt. Ja, was treibt mich an, immer wieder in Neuland vorzustoßen? Ich sage dann immer: Ich habe »die Träume meiner Jugend nicht verraten« (Schiller). Seit Jahrzehnten bin ich nun schon an der Universität, habe jedoch nie Wissenschaft im »Elfenbeinturm« getrieben, sondern immer Menschen im Blick gehabt, für die ich arbeite: meine Studenten zuerst, aber auch meine Leser und Zuhörer in der Nähe und in der Ferne. Als ich schon früh mich aufgrund meiner christlichen Glaubensüberzeugung zum Studium der

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